Das alte Lied

ein Film von Ula Stöckl

Stab:
Buch und Regie: Ula Stöckl
Kamera: Rali Raltschev
Musik: Alexander Kraut
Schnitt: Monika Schindler
Produktion: Clara Burckner Basis-Film Verleih

Darsteller:
it:Lotte Meyer †
Alfred Lübke
Rolf Dietrich
Dora Traudisch
Olaf Hörbe
Jeanne Richter
Michael Böhm
Günter Kurze
Grischa Huber

momo films Berlin (West)1982 16 mm,Farbe, Magnetton, 42 Minuten

Die Mauer ist gefallen.Katharina und ihre Familie können wieder nach
Dresden reisen.Kann das Leben dort wieder aufgenommen werden,wo es vor mehr als 40 Jahren abgebrochen wurde?Ruft Katharina die Geister nach Dresden,die 1990 wieder die Straßen verunsichern?Oder hat die Vergangenheit keinen Zugriff auf die Gegenwart?Katharina will eine alte Liebe zu Ende träumen,ihr Haus in Dresden wieder bewohnen und endlich im Kreise aller Lieben Weihnachten feiern.Wollen die Enkel das auch?Trotz derselben Sprache haben sie Verständigungsschwierigkeiten und große Angst vor neuem Betrug. Noch -Dresden 1990 -ist das Spiel offen.Die Vergangenheit mit ihren Erinnerungen,Lebenslügen und Lebensträumen hinterfragen,um in der Gegenwart die richtigen Fragen stellen zu können.Davon handelt dieser Film.

Inhalt
Wer ist die Ilse?Ilse,deren Lachen und Gesang durch den Film geistern. Hat ihre Schwester Katharina sie wirklich denunziert?Hat Alf seine Liebe zu ihr wirklich seiner Karriere geopfert?Lebt Ilse noch oder lebt sie nur als Sinnbild vitaler Lebensfreude und Widerstandskraft in den Träumen der Menschen,von denen dieser Film erzählt? Ilse,die Frau,die sich nie anpaßte -ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester Katharina,die immer die Tüchtige war,die den Bruder aufzog wie den Sohn und die Enkelin,die immer ihr eigenes Leben,ihre eigenen Bedürfnisse hintan stellte,sich aufopfernd für die Familie. Hätte Katharina es nicht verdient,heute -im Dezember 1990 -endlich für alles belohnt zu werden?Auch trotz der Lebenslüge,die sie erst jetzt der Familie bekennt?Entlich zum 70.Geburtstag wiedervereint it ihrer Jugendliebe Alf,der früher immer nur ihre Schwester Ilse wollte - wiedervereint wie dieses Deutschland,in dem sie vor 40 Jahren aus Dresden nach Hamburg flüchtete und heute in ihre Heimatstadt Dresden zurückkehren will. Gar kein Unrechtsgefühl hat Katharina,wenn sie heute "ihr"Haus an der Elbe wiederhaben will,so wenig wie sie es hatte,als sie es "für einen wahren Schandpreis"während der Nazizeit einer jüdischen Familie abkaufte. Die Enkel richten's besser aus?Wie begegnen sich heute Enkelkinder von Alf und Katharina -aufgewachsen in zwei sehr unterschiedlichen Deutschlands vor dem Hintergrund ihrer Familien?Sofie,die Studentin aus Köln,spricht eine andere Sprache als Stefan,der Musikstudent aus Dresden,oder Johanna,die junge Fotografin aus Ost-Berlin .Rudolf, Katharinas Bruder,hat seinen Beruf als Lehrer aufgeben müssen,um Sofies Vater zu pflegen,der seit einem Autounfall,bei dem Sofies Mutter ums Leben kam,querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt.Eine Familiengeschichte im wiedervereinten Deutschland?"Die Träume sind zerronnen,die einst die einst die stolze Brust geschwellt"-Alf,der als Arzt Karriere in der DDR gemacht hatte,voller Idealismus an den gerechten Sozialismus glaubend,steht am Ende seines Lebens vor einem Scherbenhaufen.Immer hat er sich angepaßt,wie Katharina,nun stellt er sich Fragen,die er wohl nicht mehr beantworten kann. Erinnerungen werden hinterfragt.Nichts ist so,wie es scheint.Weder das vorgestellte noch das tatsächliche Leben.Von Lebensträumen erzählt dieser Film.Von Frauen,die tüchtig waren,aber auch angepaßt, von unseren Müttern,denen wir den Wiederaufbau nach dem Krieg zu danken haben,die wir für ihre Tüchtigkeit lieben und verehren - dennoch müssen wir hinterfragen,warum wir von ihnen nicht lernen konnten aufzubegehren?Das Leben wie die Geschichte vom Hans im Glück,der seinen Goldklumpen verlor,als er das Leben,das er hatte, gegen ein vermeitlich besseres eintauscht? "Recht und Freiheit,und dann Einigkeit"
aus einem
Gespräch Ula Stöckl mit Karsten Witte

Witte:
Es gibt eine Vielstimmigkeit in diesem Film durch zwei deutsche Sprachen und auch zweifaches deutsches Schweigen,durch verschiedene Arten mit Bildern umzugehen.Ich glaube,ein Reichtum liegt darin,daß der Film weder die Vereinigung als Tragödie zeigt,noch als Farce,noch als Idyll.Es kommen ganz verschiedene Genres zutage. Zwischen der Fiktion sieht man fast dokumentarische Passagen unter den jungen Leuten,die fast improvisierte Gespräche führen mit der Last der deutschen Historie,die immer wieder in allen Teilen dieser Familie aufblitzt.

Stöckl:
Ohne die offene Form wäre ich Gefahr gelaufen,ich nur mit dem rückwärts gewendeten Blick der alten Leute zu beschäftigen,was sowieso eine große Versuchung war,weil ich immer noch fasziniert bin von dieser Vergangenheit der Eltern und Großeltern und davon,zu welchen Brüchen das geführt hat.Auch die Rolle unserer Mütter im Krieg und danach zum Beispiel.Wir verdanken unseren Müttern das Überleben,aber Widerstand zu leisten,konnten sie uns nicht lehren. Auf der anderen Seite habe ich eine junge Generation kennengelernt, die an dieser Art von Geschichtsaufarbeitung nicht interessiert ist.Sie sind daran interessiert,und das finde ich auch sehr spannend,das Hier,Heute und Jetzt zu leben und zu begreifen.

Witte:
Die jungen Leute streiten noch,war Ilse nun eine Widerständlerin,oder war sie keine.Was passiert in der eigenen Familie mit diesem Mythos?

Stöckl:
Für ich beginnt der Widerstand im Alltag.Zum Beispiel mit einem Lachen in einer Situation,wo alle anderen ehrfürchtig schweigen und durch dieses Schweigen einer Situation scheinbar ihre Zustimmung geben.Für mich ist der Widerstand von Ilse dieser kleine Silberstreif an einem dunklen Horizont,der Hoffnung gibt.

Witte:
Siehst Du eine Hoffnungsträgerin oder einen Hoffnungsträger der Zivilcourage in der Enkelgeneration?

Stöckl:
Ja,sehe ich.Allerdings it verschiedenen Erfolgsaussichten.

Witte:
Welche Figur wäre Deine Favoritin?

Stöckl:
Meine Hoffnungsträgerin ist die Fotografin Johanna.Aber es ist möglich,daß sie an derselben Kompromißlosigkeit scheitert wie Ilse. Die heutigen Hindernisse sind anderer Art.Johanna könnte daran scheitern,ihre Überzeugungen kapitalisieren zu sollen,um überleben zu können Wenn zum Beispiel erlebt,daß man sie als Fotografin hoch schätzt,ihre Bilder aber dennoch anders haben will,als sie sie macht. Dann hört sie möglicherweise auf zu fotografieren,wie sie aufgehört hat,zu sprechen.Die Videofrau Sofie hingegen findet mit ihrer silbernen Sprache und ihren Videofilmen vielleicht den richtigen Sender:Aber auch bei ihr ist das nicht sicher.Die beiden jungen haben die richtige Einstellung zum jetzt gefragten Erfolg.Johanna ist für mich die mögliche Nachfolgerin der Ilse.

Witte:
Das zeigt das Schlußbild des Films.Die Enkel stehen am Kiosk, trinken Kaffee und sind nicht einander zugewendet.Es ist ein klassischer Ort des "Dazwischen",nicht drinnen und nicht draußen, keine Wohnung,kein Cafehaus.Die Ost-Enkel glauben aber doch,sie haben eine Zukunft.Allein die ironische Fotografin sagt zu ihnen: "Projekte,Projekte."Und dann erklingt nochmal zitternd und zersungen das Deutschlandlied zum Bild des sowjetischen Jeeps,der da abbiegen will und sich nicht links einordnen kann...Mir scheint,daß das ein Bild von fragwürdiger Hoffnung sei.Also fragwürdig im besten Sinne.

Stöckl:
Es ist für ich so hoffnungsvoll wie jedes Provisorium.Solange etwas noch nicht endgültig ist, und für die Ewigkeit eingerichtet, gibt es noch viele Nischen, Möglichkeiten und große Hoffnungen, daß sich an der einen oder anderen Relaisstelle noch etwas ändern läßt.Das alte Lied muß neu gesungen werden,das ist meine Interpretation des Fallersleben-Liedes. Natürlich muß man das Recht haben zu betrauern, daß dieses sehr schöne Deutschland zu dem wurde, was es jetzt ist.Man muß aufpassen, daß nicht die alte deutsche Treue, Nibelungentreue, wieder neu entstehen kann.

Witte:
Deshalb wird das Lied ja nicht gesungen,sondern es wird stockend gefragt.

Stöckl:
Ich will nicht haben, daß da ein altes Deutschland neu aufersteht. Auch die Betonung auf deutsch, in der zweiten Strophe, welche Anmaßung. Natürlich soll ich stolz sein dürfen, daß auch deutscher Wein trinkbar ist. Aber wie schrecklich, wenn es der einzige sein sollte.

Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden hat mit der nachstehenden Begründung dem Film das Prädikat <<wertvoll>> erteilt:

Eine Fülle von Spiel-und Dokumentarfilmen nahm sich in den vergangenen Jahren des Themas der Wiedervereinigung und der damit verbundenen großen Schwierigkeiten im Zusammenfinden und dem Verstehen der Menschen von Ost und West in unserem Lande an. Ula Stöckl, die seit acht Jahren keinen Film mehr machen konnte, hat sich nie mit halben Sachen begnügt. Wenn sie sich eines Themas annahm, dann auf definitive Weise immer so, als sie es ihr letzter Film. So hat sie im Gegensatz zu anderen Filmemachern nicht nur eine Geschichte oder einen bestimmten Aspekt deutsch-deutscher Problemaktik herausgegriffen, sondern versucht, alles was sie bewegt, in einen einzigen Film einzubringen. Ein fast unlösbares Vorhaben, deutsche Geschichte in 85 Minuten umfassend darzustellen, das Leben einer Familie aufzuarbeiten, das in zwei Richtungen gelaufen ist und sich nun erstmals nach 40 Jahren in Dresden wieder zusammenfügt. Ula Stöckl hat eine besondere filmische Form gewählt, um uns dieses Thema nahezubringen. Sie erzählt nicht mit kontinuierlichem realistischem Stil, sondern auf überhöhte und sehr künstlerische Weise. So sind viele Szenen inhaltlich nur angerissen, stark verkürzt und werden nicht ausgespielt. Die Dialoge wirken teilweise plakativ, manchmal bis zur Schmerzgrenze. Wenn man sich aber auf diese besondere künstlerische Erzählform einmal eingelassen hat, schaut man fasziniert zu. Der Film ist optisch sehr sorgfältig und behutsam gestaltet. Die Kamera zaubert Bilder durch außergewöhnliche Sehweisen und große cinematografische Präsenz.Das "Lied der Deutschen" wurde auf eindrucksvolle Weise interpretiert und trägt mit zu einer besonderen filmischen Atmosphäre bei.

Filmo/ Biographie von Ula Stöckl:
Ula Stöckl, geboren 1938 in Ulm, ging nach der Mittleren Reife als 16jährige ins Büro, mit 20 an Sprachschulen in Paris und London und arbeitete danach bis 1963 als Direktionssekretärin. Sie studierte dann 5 Jahre an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Seit 1968 entstand bis 1977 jährlich ein Film,danach weitere.

Ula Stöckl hat bis jetzt folgende Filme gemacht:
1964 ANTIGONE (Kurzfilm)
1965 HABEN SIE ABITUR (Kurzfilm)
1966 SONNABEND 17 UHR (Kurzfilm)
1968 NEUN LEBEN HAT DIE KATZE
1969 GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND
1971 DAS GOLDENE DING
1971 SONNTAGSMALEREI (Kurzfilm)
1972 HIRNHEXEN
1973 DER KLEINE LÖWE UND DIE GROSSEN
1973 EIN GANZ PERFEKTES EHEPAAR
1974 HASE UND IGEL
1975 POPP UND MINGEL
1976 ERIKAS LEIDENSCHAFTEN
1977 EINE FRAU MIT VERANTWORTUNG
1982 DIE ERBTÖCHTER
1984 DER SCHLAF DER VERNUNFT
1984 WUT IM BAUCH
1987 UNERHÖRT
1991 REDE NUR NIEMAND VON SCHICKSAL (Kurzfilm)
1991 DAS ALTE LIED ...
Rede nur niemand von Schicksal
Vorfilm von Ula Stöckl zu "Das alte Lied"
Texte aus Hyperion von Hölderlin mit Grischa Huber
Ton: Hartmut Haase
Kamera: Julia Kunert und Lily Grote
Schnitt: Monika Schindler
Regie: Ula Stöckl
Kurzfilm,9 Minuten,35 mm

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