Inhalt:

Mitten in Berlin, an historischer Stelle zwischen Marienkirche und Rotem Rathaus, steht wie ein Relikt das „Marx-Engels-Forum“, ein großes, ehrgeiziges Denkmalsprojekt der ehemaligen DDR.
Jürgen Böttcher verwendet für seinen experimentellen Dokumentarfilm eigene Aufnahmen der Entstehung des Denkmals aus den Jahren 1981-86 und ausschließlich auf dem Marx-Engels-Forum gedrehtes, neues Material.
Eine große Collage aus Dokumentaraufnahmen der damals am Projekt beteiligten Künstler und intensiver Beobachtungen heutiger Besucher des anachronistischen Denkmalsensembles (Familien, Liebespaare, Touristen aus aller Welt lassen sich häufig vor den erstarrten, stoischen Figuren von Marx und Engels fotografieren).
Die musikalischen „Erzähler“ Günter „Baby“ Sommer (perc.) und Dietmar Diesner (sax.) führen mit Schlagwerk und Saxophon durch den Film, strukturieren ihn, bringen das unterschiedliche Material, das ja teilweise spröde, befremdlich, auch grotesk ist, gewissermaßen zum Tanzen.
Eine Auseinandersetzung mit Geschichte und Kunst, über Raum und Zeit in der neuen Mitte Berlins.

Stab:

Buch und Regie: Jürgen Böttcher (Strawalde)
Regie-Assistenz: Lucas Böttcher
Kamera: Thomas Plenert, Lars Lenski, Lucas Böttcher, Gunther Becher (1981-86)
Schnitt: Gudrun Steinbrück
Musik: Günter „Baby“ Sommer, Dietmar Diesner
Ton: Uve Haussig
Sounddesign: Arpad Bondy, Anette Muff
Mischung: Robert Jäger
Produktionsleitung: Marco Voß
Herstellungsleitung: Frank Löprich

Eine ö-Filmproduktion Frank Löprich & Katrin Schlösser
in Zusammenarbeit mit dem WDR, Werner Dütsch, und der DEFA-Stiftung
gefördert von der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM)
und dem Beauftragten der Bundesregierung
für Angelegenheiten der Kultur und Medien (BKM)

Verleih gefördert von Filmboard Berlin-Brandenburg

Deutschland 2001, 35 mm, Farbe, 88 Min.

Ein Gespräch mit Jürgen Böttcher (Strawalde)

Ralf Schenk: Zwischen 1981 und 1986 filmten Sie die Vorbereitungen und den Aufbau des sogenannten Marx-Engels-Forums im Zentrum Ost-Berlins. Wie kam es zu diesem Projekt, und warum wurde zu DDR-Zeiten daraus kein Film?

Jürgen Böttcher: Es war einer dieser fragwürdigen Aufträge, denen man sich schwer entziehen konnte, wenn man in einem DEFA-Dokumentarfilmstudio angestellt war. Nach „Martha“ (1978) hatte ich nur noch 1981 die drei kurzen experimentellen Übermalungsfilme „geliefert“, also wieder mal eine Spielart von Verbot provoziert. In diesen Jahren hoffte ich, endlich doch nochmal einen Spielfilm nach eigenen Vorstellungen drehen zu können. Darum diese langen Denkpausen, dieses verhältnismäßige Wegducken.
Thomas Plenert wußte – wir wollten diesen wichtigen Spielfilm natürlich zusammen machen –, daß darin neben Berlin die See, die Insel Usedom mitspielen sollte. Dieses offizielle Denkmalsprojekt war mir zuwider und ich hatte mich erstmal so gut als möglich verweigert, Bedenkzeit erbeten.
Als mein Freund Thomas erfuhr, daß die Bildhauer allesamt jahrelang in der Idylle Rügens bzw. in Oderhaffnähe usw. arbeiten würden, gab er zu bedenken, so könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Könnten doch dort oben immer mal schon auch parallel unser Spielfilmprojekt erkunden. So ist das alles gekommen. Ironischerweise, Strafe muß sein, hat Thomas dann aber schon die Chance für seinen, ich glaube, ersten großen Spielfilm „Die Beunruhigung“ bekommen, und ich konnte nicht mehr zurück. Hm, aus unserem gemeinsamen Spielfilm wurde bekanntermaßen nichts. Und auch nichts aus dem „Platz“, so der Arbeitstitel des Dokumentarfilms. Die hohen Staatsfunktionäre hatten zuletzt keinen Appetit mehr drauf. Wir können wohl von Glück sagen, daß die sich nicht mal die vierzehntausend Meter Material angesehen haben. Da waren verhältnismäßig viele befremdliche, wenig repräsentative Szenen dabei, behutsam formuliert. Also, mir hat es nichts ausgemacht, den bitteren Kelch nicht bis zum Ende aussaufen zu müssen.

Ralf Schenk: Was hat Sie bewogen, zehn Jahre nach Ihrem letzten Film „Die Mauer“ und nach einem erfolgreichen Dezennium als Maler noch einmal das Wagnis eines Kinofilms einzugehen?

Jürgen Böttcher: Wagnis? Naja. Im Grunde, oder vor allem, war es die Idee von Lucas, meinem Sohn. Ich hatte wohl mal so rumgesponnen, wie absurd heutzutage diese DDR-Gedächtnisanlage inmitten der neuen Hauptstadt der Bundesrepublik sich darstellt. Und daß man sich zu Vorzeiten mal so lange damit befasst hatte. Warum sollte eigentlich diese Mühe völlig umsonst gewesen sein und das alte Material im Archiv vielleicht bzw. wahrscheinlich für immer schmoren? Hat es nicht vielleicht doch einen relativen historischen Wert, dachten wir uns dann, und das lebhafte Interesse von Frank Löprich und Thomas Plenert und vielen anderen ermutigte uns.
Dabei hatte ich offengestanden in den letzten Jahren neben meiner Malerei ab und zu lediglich mal davon geträumt, vielleicht doch nochmal einen verrückten Spielfilm zustande zu bringen. Dokumentarfilme hatte ich genug gemacht. Das sollten jetzt, bitte sehr, die Jüngeren besorgen.

Ralf Schenk: Wie waren die alten Bilder beschaffen – und welche Gefühle hatten Sie bei den ersten Wiederbegegnungen mit ihnen?

Jürgen Böttcher: Die alten Muster waren natürlich ziemlich verblasst, teilweise verschrammt. Negative existierten keine mehr. Schwierig also, zumal auch viele Originaltöne unauffindbar waren. Aber genügend sonderbare Sequenzen - ziemlich surreal im Grunde - faszinierten uns doch. Das hätten wir damals ja nicht durchgekriegt. Die Gefühle beim Wiedersehen nach -zig Jahren? Da kamen natürlich sehr zwiespältige Erinnerungen hoch! Diese kuriose, widersprüchliche Lebenszeit. Was man alles so getrieben hat, weil man offenbar nicht anders konnte. Wie sagt Brecht: So verging die Zeit, die auf Erden uns gegeben ward...

Ralf Schenk: Werner Stötzer, Ihr einstiger Studienfreund, der für das Marx-Engels-Forum das Relief „Alte Welt“ schuf, sagt an einer Stelle: „Man muß nicht Inhalt machen, sondern Form. Der Inhalt kommt durch die Form.“ Könnten Sie sich mit dieser Sentenz identifizieren –  und was bedeutet das für Sie beim Drehen und vor allem am Schneidetisch?

Jürgen Böttcher: Naja, das hat Stötzer so lässig intuitiv vor unserer Kamera geäußert – und da ist viel Einleuchtendes dran; vor allem als Hammer gegen diese idiotischen Postulate des verordneten „sozialistischen Realismus“: „Der Inhalt bestimmt die Form“, Inhalt vor Form usw.
Nach meiner Erfahrung dreht sich alles während der Prozesse beim Malen oder Filmemachen – wie’n Vexierspiel, eins wächst aus dem andern und umgekehrt. Jedenfalls ist es wenig überraschend, ja unlebendig, wenn eine genaue, präzise inhaltliche Vorfixierung buchstabengetreu nachgebildet wird. Bei wirklicher Malerei – wie ich das nenne – ist es so, daß der Malprozeß bis zuletzt völlig offen sein muß; und oft ist es so, als ob die Farbe, die Form – der Rhythmus gewissermaßen aus sich selber zu wachsen scheint. Darum haben manche großen Maler geäußert: „Das Bild ist klüger als ich.“ Auch bei der aufregenden Arbeit am Schneidetisch helfen vorgefaßte Absichten kaum. Das Material – besonders beim dokumentarischen und experimentellen Film – bahnt sich seinen Weg gewissermaßen, es fordert seinen genauen Rhythmus und Platz, als wären organische Wachstumsgesetze am Werke. Die Kunst besteht vor allem darin, in all diese Prozesse möglichst tief quasi hineinzuhorchen.

Ralf Schenk: Wie und warum entstand die Collage-Struktur des Films? Wie sehr hat Strawaldes Malerei die Form des Films beeinflußt? Was reizte Sie an der Verfremdung durch die beiden Jazzer?

Jürgen Böttcher: Dieser äußerst zwiespältige, ja auf den ersten Blick fragwürdige Stoff war, wenn überhaupt, nur in collageartige Filmform zu packen. Alle meine Filme wurden, natürlich mehr oder weniger, auch von der Erfahrung des Malers mitgeprägt. Aber eben dadurch entgeht man der Gefahr, mit der Kamera malen zu wollen.
Ohne „Baby“ Sommers und Dietmar Diesners Jazz gäbe es den Film nicht. So einfach ist das. Ein dokumentarisches, geradliniges Protokoll der alten Geschichten und ein paar aktuelle Beobachtungen heute auf dem kuriosen Platz wäre witzlos und unzumutbar gewesen. Die beiden kneten, strukturieren diesen obskuren Gegenstand, bringen ihn mit ihrer freien, kraftvollen Musik quasi zum Tanzen. Wie Beckett’sche Bänkelsänger, Moritatenerzähler ohne Worte, brechen, konterkarieren sie mit ihrem Jazz diesen alten anachronistischen Denkmalskram, durchtränken alles sinnlich, respektlos, heutig – lebendig, frei. Da braucht man nicht viel zu quatschen – sie liefern eine vielschichtige musikalische Erzählebene. Ob das noch vielen anderen auch so gefällt wie mir, muß sich erweisen. Mir ist klar, daß so was für manche auch’ne Zumutung sein wird. Aber es geht nicht anders.

Ralf Schenk: Wie gestaltete sich die Arbeit mit zwei technisch unterschiedlichen Formaten: 35 mm Film und Video? Was bedeutete das Zusammenfügen beider Formate künstlerisch?

Jürgen Böttcher: Das war folgerichtig ein Element der Collage, es ergab sich eben so. Für mich war das schon neuartig nach zehnjähriger Pause. Immer hatten wir Filme im 35-mm-Format gemacht.
In der Sprache bzw. Technik der Malerei würde das bedeuten, Teile, Ausschnitte von Ölmalerei, Druckgrafik bzw. Zeichnung und Zeitungsfotos so auf einer Fläche zusammen zu bauen, daß sich bei aller offensichtlicher Gegensätzlichkeit und Reibung ein organisches, plausibles Gesamtwerk ergibt. Wenn man Glück hat, mit sprödem, neuartigem Reiz.

Ralf Schenk: Ich sehe Ihren Film als grandioses Happening, als groteske Verabschiedung von einem früheren Leben, einer alten Welt. Der Titel „Konzert im Freien“ deutet ja nicht schlechthin auf ein Konzert unter freiem Himmel, sondern auch in einer freien bürgerlichen Gesellschaft hin. Wie frei fühlen Sie sich selbst – auch im Vergleich zu „gestern“?

Jürgen Böttcher: Wenn Sie das so empfinden, brauche ich ja gar nichts weiter auszumalen. Ja, so, in diesem Sinne möchten wir, daß es angenommen wird, auch etwas Spaß macht.
Wie frei ich mich im Verhältnis zu „gestern“ fühle? Jedenfalls so frei, dieses doch ziemlich gewagte Projekt so und nicht anders zu machen. Man stelle sich mal vor, die beiden Jazzer etwa 1988 auf dem Terrain der ehrgeizigsten Denkmalsanlage des damaligen Staates! Dabei ist mir schon bewußt, heutzutage ist das – wie man so sagt – keine Kunst, so was in die Welt zu setzen. Man riskiert nichts, außer Verständnislosigkeit bei manchem.

Ralf Schenk: Und doch enthält der Film, bei allem Ironischen, Grotesken, auch nachdenkliche, melancholische Passagen: Die Regentropfen über den in Stahl gebrannten Fotos assoziieren Tränen, auch Blutstropfen: Tränen über ein Jahrhundert der Kämpfe, des Todes, der Angst, der Kriege, der am Ende irgendwie sinnlosen Kämpfe. Was bewog Sie zu dieser fast sentimentalen Sequenz gegen Ende des Films? Und warum haben Sie sie gebrochen und musikalisch kommentiert?

Jürgen Böttcher: Das, was Sie im ersten Teil Ihrer Frage so einfühlsam beschreiben, beweist schon hinlänglich, daß diese Sequenz so in diesen Film gehört. Vor langen Jahren sah ich in Rußland und Georgien zum ersten Mal auf alten Grabstätten verwitterte Fotos unter verschiedenen schützenden Schichten, wie in Porzellan- oder Emailleaspik verblaßte Erinnerungen an die Toten. Das ergriff einen mehr und so anders, als die bemühten Monumente, seien sie aus Marmor oder Bronze. Als wir dann an diesem Film arbeiteten, war mir immer und vor allem klar, daß einige ausgewählte der alten Fotodokumente, die an Daguerreotypien erinnern, den besonderen, gebührenden Platz haben würden, daß dann in dieser Szene ironische, groteske oder surreale Mittel ausgedient haben würden. Sentimentalisch? Bitte sehr. Für mich eher Blues. Gedenken, ja, Trauer und Wut!
Die zitierten alten Fotografien – in Stahl graviert, gebrannt –, wenn man nur einige genauer betrachtet, erzählen so viel. Erinnern an Irrwege und Verbrechen, an Millionen Opfer. Manche wirken ikonenartig, gleichnishaft – stellvertretend für so unvorstellbares Leid, aber auch für Mut und Widerstand. Als unsere Freunde, die beiden Zaubermusiker, in dieser Pfingstnacht bereit waren, in strömendem Regen weiter zu musizieren, ergab es sich wie von selber, die Regentränen, die über die authentischen Fotografien von Menschenschicksalen rannen, einzubeziehen. Das war nicht ausgedacht, herbeigeholt. Es war eben so und wirkte erstmal nachhaltig auf uns, im Leben eben, wenn Sie so wollen. Diese für mich wesentlichste Sequenz mußte deshalb gegen Ende des Films stehen.
Warum darüber dieser summende, klagende Gesang in dem Geräuschesurren?
Weil hier die Trommel und das Saxophon eine Auszeit haben mußten –, weil alles hier so offensichtlich in eine andere Sphäre hinüber wechselte, war auch ein anderer Klang notwendig.

Ralf Schenk: In einer anderen Sequenz des Films wird die Friedrich-Engels-Figur am Kran transportiert. Kopf und Schultern hängen schräg am Seil – ein Motiv, zu dem mir Barlachs „Schwebender Engel“ oder auch der schwebende Jesus am Kreuz in Fellinis „Süßem Leben“ einfällt. Würden Sie solche Vergleiche von Marx und Engels mit Heiligenfiguren als Überinterpretation empfinden? Wie heilig waren sie Ihnen selbst?

Jürgen Böttcher: Von heilig kann so oder so keine Rede sein. Diese technischen Vorgänge wirken höchst sonderbar, so ist das. Gefundenes Fressen, will sagen, das gibt was her – eben fast gleichnishaft. Das haben wir damals natürlich mit Genuß gedreht – und im Bewußtsein, das so nicht zeigen zu dürfen. Genau so diese surreal anmutenden, grotesken Situationen, Still-leben in der Lauchhammergießerei, oder das Durchsägen der gipsernen Engels-Figur. Es bleibt festzustellen, daß ein Film, der Szenen der Entstehung eines Denkmals über Marx und Engels vermittelt, doch beileibe kein Film über diese zweifellos bedeutenden Persönlichkeiten ist.

Ralf Schenk: Die Einweihung des Forums durch’s SED-Politbüro zeigen Sie wiederum verfremdet: Honecker, von den Künstlern begleitet, taucht nur auf einem Bild im Bild auf – wie schon in „Die Mauer“, in dem ähnliche Motive auf die Mauer projiziert wurden. Warum diese zurückhaltende, indirekte Konfrontation mit der Vergangenheit?

Jürgen Böttcher: Zurückhaltend? Es ist doch eher denunziatorisch. Bei der „Mauer“ damals war es undenkbar – jedenfalls bei der angestrebten Struktur dieses Films –, die alten Filmzitate einfach so in die aktuellen sinnlichen Vorgänge des Abbaus der Mauer einzumontieren. Zumal es von anderen gedrehtes, fremdes Material war. Darum also das Mittel der Projektion auf die vernarbte Mauer.
Hier nun hätte es nicht funktioniert, die Fernsehberichtsplitter dieses Eröffnungszeremoniells einfach so einzuverleiben wie etwa die anderen alten Sequenzen, die wir vor -zig Jahren selber gedreht haben. Darum das Zitat als Projektion, eingeschoben ins laufende Werbeprogramm der ständig eifernden großen Reklamewand gleich neben dem Fernsehturm. Und vor allem auch, weil die bronzenen Marx- und Engels-Gestalten dieses Werbespektakel unentwegt „genießen“. Es ist das Spannendste in ihrer Blickrichtung. „Modern Times“!

Ralf Schenk: Verstehen Sie Ihren Film auch als eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Auftragskunst“, das – bezogen auf DDR-Künstler – in den letzten Jahren immer wieder debattiert wurde und das auch einen Teil Ihrer Filme betrifft? Kann Ihrer Ansicht nach „Auftragskunst“ überhaupt Kunst sein?

Jürgen Böttcher: Nein. Einen abendfüllenden Film darüber, das käme mir übertrieben vor. – Aber natürlich steckt diese Problematik doch im Material des Films, ohne es „abzuhandeln“. Da müßte wohl dann entschieden mehr geredet, analysiert werden. Also – aber immerhin, genaugenommen musizieren ja Günter „Baby“ Sommer und Dietmar Diesner für dieses obskure Objekt in meinem, unserem Auftrag, haha! Aber eben lustvoll, aus freien Stücken, was wohl zu spüren ist.
So kann „Auftragskunst“ Kunst sein. Sicherlich ein seltener Glücksfall. Bei Michelangelo mit seiner Sixtinischen Kapelle hat es irgendwie auch geklappt und bei Rembrandts „Nachtwache“ oder den „Staalmeesters“, und auch bei Bachs „Goldberg-Variationen“...

Ralf Schenk: „Konzert im Freien“ erscheint am Beginn eines neuen Jahrhunderts. Es ist wie ein Abschluß, ein Aufatmen, ein teils sarkastischer, teils komischer Abgesang. Was erwartet der Maler und Filmemacher Strawalde vom neuen Jahrhundert?

Jürgen Böttcher: Einen Aufgesang. Nein, offengestanden erwarte ich eigentlich nichts. Man hat so seine Erfahrungen. Es kommt doch immer anders. Wünschen tät man sich so manches, zumal der Beginn des neuen Jahrhunderts gleichzeitig der Beginn eines neuen Jahrtausends ist. Also, zum Beispiel: Alle Rassisten und Neonazis zum Teufel, und daß die Utopien vom Erstreben größerer Gerechtigkeit nicht aussterben mögen. Daß wir alle wie die Kinder werden sollten, aber nicht zu kindisch! Na, da gäb’s noch einiges zu wünschen, zu fordern.- Was stellen Sie mir denn auch für Jahrhundertfragen! Jedenfalls hat dieser Strawalde im Januar schon ein paar große Bilder produziert und groß 2001 drunter gepinselt. Das popt.

Jürgen Böttcher (Strawalde)
Seine Filme, sein Leben

Anfang der 70er Jahre entschloss die DDR-Führung sich, ein kleines Parkgelände im Osten Berlins umzuwidmen zu einem „Marx-Engels-Forum“, einer Denkmalsanlage mit Monumenten aus Bronze, Marmor und Stahl. Für eine filmische Dokumentation des schöpferischen Prozesses empfahl sich durch seine Kurzfilme „Im Pergamonmuseum“ (1963) und „Im Lohmgrund“ (1976), die von Kunstrezeption und -produktion handelten, der Regisseur Jürgen Böttcher. Durch seine eigene Malerei war er aber auch als hartnäckiger Verächter des Sozialistischen Realismus verschrien.
Jedenfalls ließ das Defa-Dokumentarfilmstudio ihn erstmal, zwischen 1981 und 86, die Bildhauer Ludwig Engelhardt, Werner Stötzer. Margret Middell, den Fotografen Arno Fischer und den Regisseur Peter Voigt bei der Arbeit an ihren Werken filmen, bis zu deren Aufstellung auf dem Platz hinter dem „Palast der Republik“. Dann bekamen die Auftraggeber aber doch kalte Füße und ließen über zehn Stunden in 35mm und Farbe im Archiv verschwinden.
Ein für Jürgen Böttchers Filmer-Karriere bezeichnender Vorgang. Sein Kino, über vierzig Titel, für die er als Regisseur zeichnet, allein oder mit anderen, bildet kein abgerundetes Werk, es besteht aus Bruchstücken einer immer wieder unterbrochenen, immer wieder erneuerten Auseinandersetzung mit der Realität - deutscher Realität, Realität der DDR, der 60er, 70er, 80er Jahre. Das Fragmentarische, zu dem die Politik seine Kunst verurteilte, macht aber auch ihre Qualität aus. Sie tritt Menschen, Gegenständen, Räumen frei entgegen, offen für Gesten, Blicke, Farben, Töne. „Konzert im Freien“ erneuert diese Auseinandersetzung.

Jürgen Böttcher wurde 1931 geboren, Sohn eines Lehrers, den die Nazis vorzeitig in Pension schickten. Er wuchs auf in Strahwalde, einem Dorf in der Oberlausitz, bei dem er später seinen Künstlernamen auslieh: Strawalde. Das blutige Ende des zweiten Weltkriegs und des Faschismus prägte ihn nachhaltig. Er wurde Kommunist, besuchte die Kunstakademie in Dresden, dann, weil er im Sozialistischen Realismus für seine Malerei keine Chance sah, die Deutsche Hochschule für Filmkunst in Potsdam. Er war begeistert von Filmen Dowshenkos, Rossellinis, De Sicas.
Gleich seine erste Arbeit für das DEFA-Dokumentarfilm-Studio, „Drei von vielen“ (1961), ein dokumentarischer Spielfilm oder gespielter Dokumentarfilm, mit mehreren seiner Dresdner Künstlerfreunde, wurde verboten. Festivalpreise gewann er dann mit der Industriereportage „Ofenbauer“ (1962) und einem Film über Arbeiterinnen einer Glühbirnenfabrik mit dem programmatischen Titel „Stars“ (1963). Bis zum Ende der DDR pendelte Böttchers Karriere zwischen Verbot und Anerkennung. Zur Strafe für Filme, die als negativ und „privatistisch“ angesehen wurden, musste er Filme über Arbeiter und andere positive Gestalten drehen. Damit kamen die Funktionäre indes auf eine paradoxe Weise Böttchers erklärten Neigungen entgegen: „Eigentlich habe ich immer nur Filme gemacht über Menschen, die ich gern habe, die ich bewundere, die ich anderen empfehlen möchte.“ So entstanden, jenseits der gewünschten Propaganda, individuelle Porträts, die die Auftraggeber manchmal auch wieder in Verlegenheit setzten.
Der Dokumentarfilm ist bei Böttcher immer unterwegs zum Spielfilm. Die Objektivität des Dokumentarischen wird gebrochen durch subjektive Momente. „Porträts“ finden sich darin nicht nur im literarischen Sinne; momentweise keimen Erzählungen auf; die Stimme des Regisseurs greift ein ins Geschehen vor der Kamera. Den Schritt zum Spielfilm versuchte er 1965 mit „Jahrgang 45“ zu tun :“So wie ich malte und meine Dokumentarfilme machte, wollte ich meine Erlebnisse in eine fiktive filmische Form bringen. Wesentlich schien mir, wie aus der lebendigen Vibration des Authentischen eine Form entsteht und Spuren dieses Prozesses zu sehen sind.“
Wie eine ganze Reihe anderer Filme von 1965/66 wurde „Jahrgang 45“ noch im Stadium des Rohschnitts verboten - wegen seines freien Blicks nicht nur auf die miesen Wohnverhältnisse am Prenzlauer Berg, sondern auch auf den Gestus der Aufsässigkeit bei seinen jugendlichen Helden. „Heroisierung des Abseitigen“ hieß das. Und während die Regisseure der anderen Verbotsfilme ihre Karrieren nach kurzer Unterbrechung durchweg fortsetzten konnten, durfte Böttcher nie wieder einen Spielfilm drehen. „Die haben den am meisten gehasst, der gar nicht politisch daherkam; mein Film war ja gar kein politischer Angriff, an meinem Film haben sie die Freiheit gehasst, haben sie diese Art Erotik gehasst, so wie die Kirche, die merkt, dass jemand auf eine andere Art gläubig ist und ihren Altar nicht braucht.“

Der Film, den Böttcher zur Rehabilitierung drehte, „Der Sekretär“ (1967), über einen Parteisekretär im Chemie-Kombinat BUNA, war einer von denen, in dem seine Sympathie zu den Dargestellten den propagandistischen Auftrag hinter sich ließ.
Böttcher ist so wenig „Dokumentarist“ wie Jean Rouch - oder Louis Lumière, dessen „La Sortie des Usines“ die erste Einstellung von „Wäscherinnen“ (1972) zitiert.
Arbeiterinnen sind seine „Stars“ hier nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Er zeigt sie bei physischer Arbeit, wie Degas seine „Danseuses“. Sie werden nicht „von der Kamera überrumpelt“, sie schauen hinein mit dem Selbstbewußtsein von Porträtierten. Böttcher wehrte sich gegen den obligaten Kommentar und bemühte sich um lautlose Kameras, die synchrone Tonaufnahmen erlaubten. Er verhört die jungen Frauen nicht, er lässt sie sich unterhalten, hilft gelegentlich nach mit einer Frage aus dem Off. Sein Leitbild, der Neorealismus, scheint durch etwa in der hinreißenden Darstellung des Balls, den die Wäscherinnen mit den Lehrlingen von der Strassenreinigung feiern; er lässt an Dino Risis „Paradiso per treore“ in Zavattinis „Amore in città“ denken.
1953 hatte Böttcher an der Dresdner Volkshochschule Kunstkurse gegeben. Ralf Winkler, der 1980 aus der DDR ausgewiesen und als A.R.Penck im Westen berühmt wurde, war sein Schüler - in „Drei von vielen“ und „Jahrgang 45“ spielt er mit. Ein anderer, der Bildhauer Peter Makulies, meißelt in „Im Lohmgrund“ (1976) aus einem Sandsteinblock ein Denkmal, während um ihn herum andere Arbeiter solche Blöcke aus dem Fels sprengen. Immer ähnelt bei Böttcher die Arbeit vor der Kamera der des Filmteams. Wie die Steinmetzen bearbeitet Böttchers Kameramann - hier erstmals, wie später permanent, Thomas Plenert - den Steinbruch. Die Option für die Farbe ist nie zufällig in Böttchers Filmen.
In seinem Bericht von der Leipziger Böttcher- Retrospektive im Oktober vergangenen Jahres, in der FAZ vom 9.Januar, meint Hans-Jörg Rother, Böttcher habe vorzugsweise Menschen gefilmt, „die schweigend ihren Dienst verrichten“, wobei ihm „Rangierer“ (1984) und „Die Küche“ (1986) als Beleg dienen. In Wahrheit war Böttcher nicht nur der erste, der mit „Stars“ und „Wäscherinnen“ Arbeiterinnen animierte, sich vor der Kamera frei zu äußern, über ihre Arbeit, ihre Neigungen, ihre Glücksvorstellungen, noch in „Martha“ (1978) lässt er eine der letzten legendären Berliner „Trümmerfrauen“ anhand von Archivbildern ihr eigenes Leben kommentieren. Als jedoch in den 80er Jahren bei der Defa Interview-Filme in Mode kamen, wobei die freiwillige Selbstkontrolle der Filmer wie der Gefilmten ins Auge sprang, suchte und fand er mit „Rangierer“ ein Sujet, das den von ihm bei der Arbeit Gefilmten das Lügen ersparte. Er filmte die Eisenbahner im Bahnhof Dresden-Friedrichstadt, die in einer Nachtschicht, bei Nebel, Schnee und Eis, tausend Waggons entkoppeln und neu zusammenstellen. Das genaue Hinsehen und Hinhören verlangt ihnen eine Konzentration ab, die es ihnen verbietet, viele Worte zu machen. Die Funktionäre witterten wieder Unrat: „Die ´sprachlose Arbeiterklasse´ - da hat Böttcher sich wieder was geleistet.“ Abseits und jenseits jeder Hoffnung auf den „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“ solidarisiert Böttcher sich mit seinen Helden. Bewegungen wahrzunehmen, die der selbständig rollenden schweren Waggons, rechtzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren mit dem eigenen Körper: die Arbeit der Gezeigten wird zu der der Zeigenden.
In den 70er und 80er Jahren lockerte sich in der DDR allmählich das Verdikt über die „Formalisten“ in der Kunst. In einem Tryptychon, bestehend aus den Kurzfilmen „Potters Stier“, „Venus nach Giorgione“ und „Frau am Klavichord“ (1981), ist der Filmer Böttcher dem Maler „Strawalde“ am nächsten. Der nahm „eine kleine Kunstpostkarte, ein bekanntes Motiv, benutzt es wie eine Melodie und fängt an zu paraphrasieren, kontrapunktet mit seinem Pinsel durch die Kunstgeschichte und Stile, spielt mit Formen und Farben um sein Objekt herum und über sein Objekt hinweg. Das Auge ist entzückt“ (Wolf Kypke, „Aus dem Blickwinkel eines Banausen“). Der amerikanische Experimentalfilmer Stan Brakhage, den er bei einem Festivalbesuch in Amsterdam traf, regte ihn an, den Vorgang diesen drei Filmen zugrundezulegen.
In dem Kurzfilm „Kurzer Besuch bei Hermann Glöckner“ (1984) zeigt er den 95jährigen konstruktivistischen Maler und Bildhauer bei der Arbeit. Böttchers Filme beschwören in den Äußerungen der von ihm Porträtierten, Arbeitern wie Künstlern - Arbeiter oft als Künstler, Künstler immer als Arbeiter - immer auch Würde, Schönheit, Glück.

Böttchers lange Zeit letzter Film, vor zehn Jahren, war „Die Mauer“. Wer eine mit heißer Nadel gestrickte TV-Chronik erwartete, wurde enttäuscht. Statt mit alerter Schmalfilm- oder Videokamera filmten Böttcher und Plenert mit ihrer schweren, geblimpten Arriflex– „aus unserer Zuneigung zum Kino heraus“, sagt Böttcher. Wie in „Im Lohmgrund“ wird ein Raum ausgeschritten, ein Stück perverser Landschafts-Architektur, die aus einem Staat ein Gefängnis machte. Die Graffiti vieler anonymer Künstler haben aus der Mauer ein Fresko, ein Historienbild gemacht. Jetzt zersägen Schneidbrenner die Betonwände in imposante Stelen, gigantische Kräne arrangieren sie für kurze Zeit zu einem Friedhof. Menschen aus aller Welt machen diesen Raum zum Theater eines kollektiven Happenings, eines internationalen Karnevals; Böttcher schaut und hört ihnen zu. „Und auf die Mauer projiziert Böttcher deutsche Geschichte, wie auf seinen übermalten Postkarten überzieht er den rauhen Grund der Mauerplatten mit den Schatten der Vergangenheit; was dieses Jahrhundert ausmachte, beginnt zu tanzen“ (Heidemarie Hecht, in „Schwarzweiß und Farbe - DEFA-Dokumentarfilme“ 1946-92). Den Lichtstrahl aus seinem Projektor filmt Böttcher wie einen Flammenwerfer, der ein Loch brennt in den Raum, in die Zeit.
Zehn Jahre später filmt Böttcher ein ganz anderes Stück Landschafts-Architektur, unverändert seit seiner Inauguration am Vorabend des letzten Parteitages der SED. Vergangenheit, barmherzigem Vergessen anheimgegeben. Nichts hat stattgefunden als die Statt. Böttcher sagt, er hätte „Der Platz“ - das war der Arbeitstitel - nicht gemacht, wäre ihm nicht die Idee zum „Konzert im Freien“ gekommen. Zwei Jazzmusiker, der Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer und der Saxophonist Dietmar Diesner, bespielen den Platz - das war Böttchers Idee. Sie dialogisieren, untereinander und gegen die Dioskuren auf dem Bronzesockel, blaffen, zwitschern, klagen, lassen einander ausreden, nehmen einer des anderen Gedanken auf, führen sie weiter. Widerspruch, Zorn, Trauer sprechen aus ihrer Musik, aber ihre Gestik und Mimik enthält sich des Ausdrucks, geht auf in der Arbeit. Man sieht, wie bei Makulies und Glöckner: Kunst arbeitet.
„Seit Jahren reizt mich der Versuch“, sagte Böttcher schon 1974, „einen Collagefilm zu machen. Darin würde ich gerne die Verbindung von Dokument, Spiel und Malerei ausprobieren. Es könnte so eine Art persönlicher Essay werden.“ Seine Collage jetzt, aus Dokument, Spiel und Musik, ist ein solcher Essay.
Enno Patalas

Filmografie
Filme von Jürgen Böttcher (35 mm)
(Auswahl)

1961 Drei von vielen, 35 min.
1962 Ofenbauer, 15 min., sw
Im Pergamon-Museum, 19 min., sw
1963 Stars, 20 min., sw
1964 Barfuß und ohne Hut, 26 min., sw
1966 Jahrgang 45, Spielfilm
1967 Der Sekretär, 29 min., sw
1968 Tierparkfilm, 19 min., sw,
1971 Song International, 45 min., sw,
1972 Wäscherinnen, 23 min., sw
1974 Erinnere Dich mit Liebe und Haß, 40 min., farbe/sw
1974 Die Mamais, 20 min., farbe
1976 Im Lohmgrund, 27 min., farbe
1977 Großkochberg - Garten der öffentlichen Landschaft, 16 min., farbe
Ein Weimarfilm, 69 min., farbe
1977 Murieta, 18 min., farbe
1978 Martha, 56 min., farbe
1981 Trilogie Experimenteller Film
Potters Stier, Teil 1, 16 min., farbe
Venus nach Giorgione, Teil 2, 21 min., farbe
Die Frau am Klavichord, Teil 3, 17 min., farbe
1983 Drei Lieder, 28., farbe
1984 Rangierer, 22 min., sw,
Kurzer Besuch bei Hermannn
Glöckner, 32 min., sw/c
1986 Die Küche, 42 min., sw
1987 In Georgien, 107 min., farbe
1990 Die Mauer, 100 min., farbe


Filmretrospektiven

Paris, Centre Pompidou, 1986
Edinburgh, 1988
Frankfurt a.M., Filmmuseum, 1989
Paris, Jeu de Paume, 1993
Belfort, Festival du Festival, 2000
Bologna, 2000
Leipzig, 2000
 

 

Beschreibung Des Films
von Enno Patalas

Kursivschrift: Aufnahmen aus den Jahren1981-86
Standardschrift: Gegenwart 2000

Die Baustelle aus der Vogelperspektive. Grau. Vorn die Spree, darauf Kähne, hinten im Dunst Marienkirche, Fernsehturm, Rotes Rathaus. Tauben fliegen hin und her.
Musik: „Let Time Pass BY“, eine spannungsreiche musikalische Collage, freier Percussion-Rhythmus, schnelle Bewegung im Kontrast zu ruhendem Grundton.
Im Grünen (auf Usedom). Marx und Engels unter schwarzen Planen, vom Wind bewegt. Bedeckter Himmel.
Ein Detail des Marmorreliefs Alte Welt (auf Rügen), in Arbeit. Wieder Usedom. Ein Mann im Schutzanzug (Ludwig Engelhardt) in metallenem Liegestuhl, putzt einen kleinen Spiegel. Im Spiegel: Engels, in Gips, hinten das Meer. Marx/Engels in
Gips, hinter ihnen ein hoher Baum.
Die Musik geht über in Meeresrauschen.

Totale: Marx/Engels, davor Günter „Baby“ Sommer, in weißem Hemd, mit Schlagzeug - Instrumentarium, Dietmar Diesner in schwarzem Anzug. „Hystrionische Reaktion“: Sommer trommelt, schnelles Grundtempo. Diesner mit Sopransaxophon: geräuschartiger, flatternder, sich wiederholender Ton, aus dem ein wildes Solo hervorgeht. Hinten der Palast der Republik, eine Fahrrad-Rikscha fährt durchs Bild, Zoom rückwärts, seitlich kommen Stelen-Paare ins Bild.

Engelhardt arbeitet am Gipsmodell von Marx/Engels.
Kommentar (Stimme Böttcher): „Gummlin am Oder-Haff. Der Bildhauer Ludwig Engelhardt. Seit 1974 arbeitete er, im Auftrag der Staatsführung der damaligen Deutschen Demokratischen Republik, an dem Projekt einer Marx-Engels-Denkmalsanlage für die Hauptstadt Berlin. 1986 wurde sie eingeweiht.“
Stötzer auf Rügen bei der Arbeit an seinem Marmor-Relief.
Kommentar: „Marmor aus Carrara. Der Bildhauer Werner Stötzer in Vilmnitz auf Rügen. Das Thema des fünfteiligen Reliefs: Alte Welt.“

Usedom: Engelhardt arbeitet an Marx.

Marx/Engels, zwischen ihnen ein Mädchen mit Zöpfen, hält die Hand über die Augen. „Jazz-Stream“: Leise Tenorsax-Töne. Drei Männer, ein Japaner kommt ins Bild. Sommer: swingender Drum-Groove, Diesner: bluesartiges Solo. Schluss mit Ritardando.

Stötzer spricht zu Böttcher (unsichtbar): „Eine sehr einfache Geschichte. Man muss nicht Inhalt machen, sondern Form. Der Inhalt kommt natürlich durch die Form. Das ist doch beweisbar, einfach. Du hast konkav und konvex. Das heißt also, was du rausnimmst, musst du lassen. Und was zwischendurch ist, ist bedeutend. Bei der Plastik ist es so . . .“

Weiche Formen, Gips, Frauenhände, Magret Middell im
Profil.
Kommentar: „Die Bildhauerin Magret Middell. Sie arbeitete am Barther Bodden. Das Auftragsthema ihrer Bronzereliefs: Die Würde und Schönheit freier Menschen.“
Marx/Engels unter Dach, weiter ausgeführt.
Zwischen Marx und Engels ein Kätzchen. Es miaut.

„Borderline Typus“: Sommer schlägt Becken, horcht. Blas- und Klappengeräusche mit Sopransaxophon. Langer Ton im Off. Musik schrammt, blafft, krächzt, kurze Fragmente. Diesner geht auf Marx/Engels zu, kratzt mit dem Instrument über den Denkmalssockel, hält es waagerecht wie eine Trompete, bläst Marx/Engels ins Gesicht.

Marx/Engels in Gips, im Grünen, links und rechts die Stelen, wie später auf dem Platz. Eine Doppelstele, hell glänzend vor dunklem Grün. Musik im Off. Ein Traktor zieht Engels. Schwenk hoch an einer der Doppelstelen, durch den Spalt Wolken.
Sommer mit kleiner Marschtrommel vor der Stele, jetzt mit Bildern. Unten Graffiti, Ideogrammen ähnlich.
Zwei musikalische Ebenen. „A+B=C“ (aus der CD „Two Making a Triangle“) von Peter Kowald und Maarten Altena, Streicher, Pizzakati, Tremoli, Saiten schlagen auf Griffbrett auf.
Wasser rieselt auf eine Stele, die auf einer Werkbank liegt.
Sommer trommelt eine Stele an, Marx/Engels im Hintergrund, Diesner kommt auf Sopransax blasend ins Bild, hält ein und denselben Ton über eine lange Zeit an, bläst das Denkmal direkt an mit rauhem Ton.
Werkstatt. Ein Kran fährt unter der Decke. Eine Stele, von Magneten gehalten, wird hängend gefahren, abgesenkt.
Diesner wie vorher, wendet sein Instrument, erhoben, vom Spalt weg, gegen den Himmel gerichtet, Sommer geht über den Platz, trommelnd vor Diesner zurück.

In der Werkstatt von oben, liegend Fotos. Grafiker legen sie. Eine Hand bearbeitet ein Bild: Rotarmisten der Bürgerkriegszeit.
Sommer mit roten Trommelstöcken. Trommel- und Saxophonstöße zugleich gegen die Stele. Darauf erkennbar verschiedene Bilder, zuletzt Ulbricht.

Arno Fischer und Peter Voigt im Atelier, vor einer Tafel mit Fotos.
Kommentar: „Der Fotograf Arno Fischer und der Regisseur Peter Voigt. Ihre Auswahl historischer Fotografien. Später eingebrannt in acht Stahlstelen. Ihr Thema: Der weltrevolutionäre Prozess seit Marx und Engels bis in die Gegenwart.“
Fischer: „Diese Fotos in Stahl umzusetzen, da gab`s natürlich Probleme. Man muss wissen, dass die Fotos aufgerastert werden, und dass dieses Raster unter einer bestimmten Größe, wenn es z. B. bei einem Foto um Gesichtsausdruck oder Haltung geht, dann darf dieser Mensch, der dort dargestellt ist, der muss eine bestimmte Größe haben, auf dem Foto, sonst kann man das Gesicht nicht mehr erkennen . . .“
Voigt: “Die Wirkung soll darin bestehen, dass ein Mensch dich anguckt, dass der Blick dich erreicht . . .“

Bilder nah auf einer Stele. Diesner jetzt in Mantel mit Hut. „Saxsolo Forum“: Sopransax-Solo mit verschiedenen Blastechniken, Stakkato-Passagen, Flatterzunge, Flageolettöne. Es regnet. Bilder: Männer um Bebel bei einem SPD-Parteitag. Foto von Louis Hine: ein Junge in einer Glaserwerkstatt. Auf dem Place Vendome 1871, die gestürzte Säule.




Marx ganz nah, Gipsmodell. Engelhardt mit Spiegel, dreht sich um, wendet ihn rückwärts der Plastik zu, schaut hinein, setzt sich wieder in den quietschenden Liegestuhl.
Stötzer erklärt: „ Das muss rein, das muss raus, das muss weg. Das sieht man nur bei der Arbeit . . .“

Stötzers Relief ausgeführt auf dem Platz. frontal. Dahinter der Palast der Republik. Die Kamera schwenkt das Relief ab, parallel zu Diesners Weg hinter dem Relief her, durch die Spalten ist er zu sehen. Tenorsax-Solo, hauchig, mit viel Luft geblasen, ruhig, etwas kaputt, klagend.

Junge und Mädchen auf Rollerscates. Eine Gruppe schaut. Touristen. Junge Frauen stützen sich auf Marx` Knie.

Sommer und Diesner: „Mellow“. Sommer beginnt. Musik setzt den Charakter des Tenorsolos von vorhin fort, diesmal mit Schlagzeug, bluesmäßig, gezogene Töne. Sax-Einsatz. Schlagzeugrhythmus geht in Medium-Swingtempo über.

Marx/Engels als Gipsmodell in der Ebene. Engelhardt sägt. Engels wird zerlegt.
Stötzer und Böttcher .Stötzer.: „Singen wir ein Lied?“ Stötzer singt: „Ja das geht ran, das geht ran, Aristokraten an die Laternen . . .“ (Melodie: Ah, ca ira . . .“)

„Kleiner Chinese“. Diesner spielt nur einen einzigen Ton, hält Sopransax waagerecht, moduliert: Vibrato, Bending, Vorschlag, Triller. Sommer: Drums, schneller freier Rhythmus, Becken mit Besen. Tam Tam, Snare. Ein Kind, es schaut in die Kamera, dann abwechselnd zu Sommer und Diesner, sieht etwas, zeigt nach oben, ganz aufgeregt. Gegenschnitt: ein Hubschrauber, dessen Geräusch sich in die Musik mischt. Im Hintergrund Frisbee-Spieler. Sopransax-Solo, beendet durch Tam-Tam-Wirbel.


Engelhardt in Ledersessel: „Abgesehen von der Aufforderung mit dieser Frage sich zu beschäftigen, sowieso der Auftakt...“ Der Raum ist gegeben ... Erste Entscheidung: kein großer Gegenstand. „In dieser ganz niedrigen Mulde die gebildet wird durch diesen breit und flach gestreckten Raum. . . dass man da keinen großen Gegenstand reinstellen kann. Der könnte überhaupt nicht konkurrieren mit den Gebäuden, da steht dieses riesenhafte Volumen des Doms, immer auch zuletzt die enorme Höhe des Fernsehturms. Da ist überhaupt nichts mit Höhe zu machen gewesen. So war wahrscheinlich wirklich ... der erste positive Gedanke, dass man etwas machen müsste, was eine Art von intensiver Raumzone herstellt.“

Totale. Schnelle Kamerafahrt, im Kreis gleitend. Denkmalsanlage klein vor Dom, Palast der Republik, Rathaus, Kirche, Fernsehturm. Musik aus dem Off: „M.E.-Karussell“, afrikanische Rhythmen, leise, pentatonische Ostinato-Figur auf der Schlitztrommel. Sopransax-Thema.
Zuschauer vor Stelen, interessiert. Ein Touristenbus im Hintergrund. Ein jüngeres Paar - Südamerikaner? Der junge Mann mit Rucksack. Er streckt eine geballte Faust hoch, posiert für seine Freundin mit Fotoapparat, schneidet Gesichter, fletscht Zähne; er küsst sie, fotografiert sie. Ein Japaner hält seine Videokamera in die Luft. Ein älteres Paar in schwarzen Mänteln, er mit einem Buch unterm Arm, Typ Intellektuelle.
Inlinescater vor dem Relief Alte Welt.
Eine Reklame-Videotafel am Fernsehturm. Gegenüber die Silhouette von Marx und Engels. Der Videoschirm groß im Bild. Titel: „Im Kabel ...“ Sommer und Diesner am 1.3.2000 im Japanischen Palais (Dresden).
Alte Fernsehaufnahmen: Schwenk über den Platz. Eine Kapelle der Volksarmee. Honecker, Marx / Engels aus Untersicht, Stötzer spricht mit Honecker. Der: „Keine schlechte Anlage.“

Diesner, mit Sopransax, steht vor Marx. Sommer mit Maultrommel sitzt vor Engels. „November-Song“: Durchgehender Ostinatorhythmus auf der Maultrommel mit gleichbleibendem Grundton, dazu orientalisch anmutende melodische Wendungen im Sopransax, Vierteltonschritte, zu Maultrommel leicht verstimmt.




Erzgießerei. Relief waagerecht zugedeckt. Platten mit Füßen und Fußabdrücken. Bronze wird geschmolzen. Schmelzen. Funken, Guss. Künstler im Gespräch. Lenin, geballte Faust, verschiedene Büsten, ein lächelnder Arbeiter. Ein Teil von „Würde und Schönheit“ schwebt. Sitzender Marx liegt auf dem Rücken. Schnee. Halle, durchsichtig, im Freien.

Diesner`s Tenorsax liegt vor Engels` Füßen. „Manifest“: Sommer setzt am Boden liegende gestimmte Eisenplatten als Glockenspiel ein, trommelt zwischen Marx“ Füßen, benutzt dessen Bein als Basstrommel. Diesner hält sein Sopransax waagerecht. Geräusch-Rhythmus. Dialog Sax-Percussion. Sommer bespielt das Bronzedenkmal, trommelt darauf mit seinen Eisenhämmerchen.

Stötzer, rhythmisch hämmernd. Sein Relief halbfertig im Grünen, überdacht.
„Schwebender Engel“: Diesner erzeugt ein Geräusch, indem er sein Saxophon mit Wasser ausspült. Sommer begleitet das Geräusch mit stummen Gesten, wirbelt Schlagstöcke in der Luft, beginnt zu spielen, während Diesner ausgießt.
Transporter führt die eingehüllte Marx/Engels-Plastik heran. Vier Volksarmisten. Ein grauer Wintermorgen. „ngels liegend, sein Arm in Fesseln. Eine Plane wird entfernt. Darunter sitzend Marx, Engels bäuchlings liegend. Engelhardt schaut. Marx wird gehievt, Engels schwebt durch die Luft.

Dunkelheit. Gewitterhimmel hinter Marx/ Engels. Ein Blitz. Regen rauscht. Sommer spielt, wie immer im weißem Hemd. Diesner ganz groß in Hut und Regenmantel. „Für Strawalde“: Schlagzeug und Sopransax, afrikanischer Rhythmus, Thema und Improvisation. Der Beginn erinnert entfernt an das Wolgalied.


Stille. Bilder auf den Stelen, darüber rinnend Regentropfen: Petrograd, Juli 1917. Gefängnisfoto mit Thälmann. Moskau 1905. Ein Gruppenbild mit Krupp-Arbeitern. Ein Porträt von Rosa Luxemburg, zerkratzt. Vier Berliner Jungkommunisten. Stark zerkratzt das Bild eines Sowjetsoldaten.
Darunter Musikeinsatz: „Bienensummen“ (aus der CD „Kaletungo“), Gesang von Simon Jakob Drees in gregorianischem Stil, verhallte Stimme Blasgeräusche, Steichertremoli und -flageolettöne. Weitere Stelenbilder: Spartakisten in Berlin. Eine junge Russin. Indien: bettelndes Kind. Mexiko: die Zapata- Revolution. Mutter Heimat, das Denkmal in Stalingrad. Daguerreotypie: Negeramme mit weißem Kind. Eine asiatische Frauengruppe mit Sowjetstern. Erschießung polnischer Zivilisten durch Wehrmachtsoldaten. Ein alter Vietnamese mit verbundenen Augen. Wolgaschlepper im vorrevolutionären Russland. Freiwillige in Spanien. „Weißer Terror“ in Russland. Musik setzt aus. Detail: Tropfen auf gerastertem Bild.

Totale, Nacht, links und rechts glänzend die Stelen, In der Mitte Sommer und Diesner vor Marx/Engels. „Regen-Blues“: Tenorsax, lange, gedehnte Töne, bluesmäßig. Slow Swing.

Detail: Trommelwirbel. „Burundi“: Solo auf Pauke und Becken. Schlag auf Becken, Tropfen spritzen.

Enno Patalas, für die Musik: Rainer Fabich

Ein Feuer im Forum
zur Musik des Films
mit Günter Sommer
und Dietmar Diesner


Jürgen Böttcher kreist mit der Kamera über Ost-Berlin und um das Marx-Engels-Forum. Er kreist um die in der Geschichte versunkene DDR, die nicht nur Monumente, sondern auch Utopien, Verletzungen und Phantomschmerzen, Denkanstöße und Widerhaken hinterlassen hat. Böttcher setzt das Denkmal für die philosophischen Köpfe einer weltrevolutionären Bewegung, die vielfach in Beton und Marmor, Bronze und Gußeisen erstarrte, in Beziehung zu einer dynamischen Klangperformance.
„Kampf und Einheit der Widersprüche“ nannte sich so etwas im kleinen Kanon der Dialektik. Karl Marx zur Entgegnung von Erstarrten und Spontanem: „Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!“

Hatte die DDR einen eigenen Klang, und was ist davon geblieben? Das Tuckern des Trabi-Motors, das Rocker-Melodram, das sinfonische Auftragswerk, der Tagesschlager, das Massenlied? Die aus dem Jazz und zum Teil auch aus dem Rock herausgewachsene improvisierte Musik, die sich in der DDR der 70er und 80er Jahre geradezu eruptiv Bahn brach, erweist sich als ein Klanggeschehen von authentischer Qualität. Sie konnte die DDR überdauern, weil sie Gesellschaftliches im Fluss reflektierte und sich nicht nur als Spiegel, sondern auch als Aktion begriffen hat.
Die Frage, ob es einen spezifischen DDR Jazz gab oder gibt, bleibt offen. Bestimmt gab es jazzmusikalische Besonderheiten, gewonnen aus der Reibung an der Enge der Verhältnisse, der Behauptung gegenüber Bevormundung, dem Drang zur Kommunikation mit der Internationale der freien Improvisation und der Tuchfühlung mit einer Zuhörerschaft von gleichgestimmter, unangepasster Befindlichkeit. Die Musiker und ihre Verbündeten begannen in den 70er Jahren, ein Netz von Veranstalteraktivitäten aufzubauen. Die kleinen Klubs und die grossen Festivalbühnen im Freien wurden zu Treff- und Sammelpunkten einer Szene mit subkulturellen Untertönen. Der winzige Ort Peitz bei Cottbus avancierte zu einem Mekka der Free-Jazz-Szene in der DDR. Die Open-Air-Events in Peitz, bei denen ausnahmslos avantgardistische Klänge präsentiert wurden, glichen - heute kaum mehr vorstellbar - Massenveranstaltungen. Konsens auf der Ebene des Nonkonformismus mag eine Rolle gespielt haben. Darüber sei nicht vergessen, dass eine neue improvisierte Musik ausgeformt und differenziert wurde.

Dietmar Diesner, geboren 1955, ist in diese Szene hineingewachsen. Als 24jähriger gab er sein Debüt mit dem Trio „Evidence“, das damals als eine der herausragenden jungen Gruppen der freien Improvisationsmusik galt. Er hat sich forschend mit neuen Spieltechniken auf dem Saxophon, auch in Verbindung mit Live Electronics beschäftigt. Seit Anfang der 80er Jahre gibt er Solokonzerte, die er zu musikalischen Performances gestaltet. Dietmar Diesner spielte mit den herausragenden Improvisatoren der DDR und in zahlreichen internationalen Besetzungen, u.a. mit Tony Oxley, Radu Mafatti, Elliott Sharp, David Moss und Jon Rose. 1982 begann er die multimediale Arbeit mit Künstlerinnen und Künstlern aus den Bereichen Tanz, bildende Kunst und Literatur. Die von ihn mitbegründete Gruppe FINE errang in der alternativen Kulturszene der DDR einen Kult-Status. Dietmar Diesner war am Projekt „Der Mann im Fahrstuhl“ mit Heiner Müller und Heiner Goebbels beteiligt und zählt auch zu den Mitgliedern der Rock-Noise-Bands Kixx und Slawterhaus. Er arbeitet u.a. im Duo mit Sven-Åke Johansson, Peter Hollinger, Ulrich Gumpert, auch in Trio Formationen mit Johannes Bauer sowie Helmut Sachse und beständig mit genreübergreifenden Projekten.

Der Schlagzeuger und Perkussionist Günter Sommer, geboren in Dresden 1943, zählt zu jener Generation von Jazzmusikern, die der freien Improvisationsmusik in der DDR bereits Ende der 70er Jahre zum Durchbruch verhalfen. Er spielte damals im Trio mit dem Saxophonisten Friedhelm Schönfeld und dem Bassisten Klaus Koch, dann ab 1973 mit der Gruppe „Synopsis“, die für den Free Jazz in der DDR wie eine Initialzündung wirkte. Das Quartett „Synopsis“ mit dem Saxophonisten Ernst-Ludwig Petrowsky, dem Posaunisten Konrad Bauer und dem Pianisten Ulrich Gumpert wurde in den 80er Jahren auf Initiative Sommers unter dem Namen „Zentralquartett“ neu formiert. In der Arbeit mit Partnern wie dem Domorganisten Hans-Günther Wauer und auch in der Konzentration auf die unter dem Titel „Hörmusik“ aufgeführten Soloprogramme profilierte sich Günter Sommer als ein Schlagzeuger und Perkussionist mit außergewöhnlicher Klangsensibilität, der auch im freien Spiel immer noch den Drive des Jazz spüren lässt. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre spielte er im Trio „Chicago-Wuppertal-Dresden“ mit dem Trompeter Leo Smith und dem Bassisten Peter Kowald. Er hat mit zahllosen Musikern aus aller Welt zusammengearbeitet und beständig neue Projekte entwickelt, auch literarisch-musikalische Programme mit Günter Grass und musiktheatralische Produktionen mit der Tänzerin und Choreographin Inge Mißmahl.
Im Duo von Günter Sommer und Dietmar Diesner schwingt eine Menge gemeinsamer Hör- und Spielerfahrung mit. Und natürlich spielt auch die beiden eigene Erlebniswelt der DDR hinein. Diesner und Sommer gestalten Blätter aus den musikalischen Tagebüchern ihrer Biografien. Das Konzert im Freien gerät zur Performance, zur Selbstdarstellung, zur Hommage und zur Klage, auch zur Persiflage auf Marschbefehl und Wachablösung. Klangelemente aus anderen Kulturen erinnern daran, dass wir nicht allein auf der Welt sind.
Auf einer anderen Ebene reflektiert die Musik den Prozess des Schlagens von Stein und des Giessens von Metall, setzt sie Arbeit in spontane, klingende Aktivität um, betreibt sie Materialbearbeitung zugleich als Klangerforschung.
Das Denkmal selbst wird in den Spielprozess einbezogen. Und doch belässt es Diesner dabei, am Sockel zu kratzen, wagt es Sommer allenfalls, das Bronzebein des Kolosses zum Klingen zu bringen. Die beiden konzentrieren sich auf die spontane Aktion. Es ist alles zu hören: das Lamento und der Schrei, die Renitenz und der Triumph der Sinne. Vor allem aber wirkt diese Musik wie ein Feuer im Freien angesichts eines merkwürdigen Denkmals. Ein Feuer, das wild aufflackert und den Regen des mit Blues-Klängen begleiteten Requiems erwärmt.
Bert Noglik