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  • Liebe Mutter, mir geht es gut

    PRESSESTIMMEN

    Das Denken, das auf Veränderung drängt
    von Wolfram Schütte

    Es gehört Mut dazu, der Wirklichkeit, wie sie ist, standzuhalten. Wiese und Ziewer besitzen ihn: den Mut, sich nichts vorzulügen und auch nicht ihren Zuschauern. Das ist selten bei uns und schafft einem nicht unbedingt viel Freude. Besser lässt sich träumen, grundlos und tief: aus Büchern heraus und in die Welt hinein. Das macht Stimmung, schafft Zufriedenheit, lässt starke Zuversicht aufkeimen und verdorrt doch schnell zu schwarzen Enttäuschungen, die nicht selten in kopfloser Wut enden. Pessimismus ist das intensivste Gefühl voreiliger Optimisten.
    Übrigens sind Wiese und Ziewer keine Pessimisten, und ihr FIlm ist keine Elegie, auch kein Wutschrei … Obgleich der Film von Niederlagen berichtet, hinterlässt er keine Niedergeschlagenheit, und ohne von Hoffnungen zu sprechen, ist er eine und verhilft ihr dazu, wirklich zu werden …
    Der Stoff, die Dialoge, die Situationen sind aus konkreten Berichten von Arbeitern hervorgegangen. Die Autoren haben das Drehbuch immer wieder mit Kollegen aus Betrieben, mit den Laiendarstellern durchgesprochen und revidiert. Aus diesem intensiven Kontakt mit der konkreten Realität, mit den konkreten Menschen, deren Arbeitswelt der Film wie kein deutscher Spielfilm bisher bis in unscheinbarste Details realistisch wiedergibt, entstand eine Authentizität, deren überraschender Reichtum an Nuancen, unterschiedlichen Motivationen, Reaktionsweisen, Argumentationen sich der Totalität nähert.
    Vor allem aber bestehen die Autoren auf der vollen und konkreten Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Prozesse. Urteile über Richtigkeit und Nützlichkeit bestimmter Handlungsweisen, über Taktik und deren Versäumnisse lassen sich nur aus der jeweiligen konkreten Situation ermitteln. Didaktik geht ganz auf in sinnlicher Erfahrung; Reflexion, theoretische Ansätze entwickeln sich aus der Beobachtung, aus Alternativen und Kontroversen. Die Freiheit, die sich der Film nimmt und die er dem Zuschauer mitteilt, kommt aus der Notwendigkeit, in die er Einsicht verschafft. Da ist keine Spur von dekretiertem Dogmatismus, sondern nur die Lust am Denken und zu sehen, wie es auf Veränderung der Welt drängt.
    Das ist spannend nicht nur in der Verfolgung des Spielverlaufs. Mehr noch dadurch, dass die Autoren den Film mit Kommentaren, Zwischentiteln, Erzählungen und Interviews auflockern, ja mit einem äußerst empfindlichen Bewußtsein für alternierende, lockende Reize die Lust am Erkenntnisprozess immer erneut und von anderen Seiten her in Bewegung halten. Mit „Liebe Mutter, mir geht es gut“ hat unser politischer Film endlich jene kommunikative Reife erlangt, von der er bisher nur wirr geträumt hatte.
    (Frankfurter Rundschau, Juni 1972)