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  • Turiner Pferd, das / A Torinói Ló

    PRESSESTIMMEN

    Reise ans Ende der Welt

    Das muss wohl wirklich das Ende der Welt sein, meines und deines und unseres sowieso: Béla Tarrs „Das Turiner Pferd“ ist eine betörende Kinoerfahrung.- mit nur 29 Einstellungen in 146 Minuten.

    Am zweiten Tag sehen wir zum ersten Mal ihr Gesicht, es ist ein schönes, junges, von Arbeit und Wetter gegerbtes Gesicht mit klaren Augen und einer ausgeprägten Nase. Die Haare hat sie hinter die Ohren gesteckt, es sind struppig lange Haare, wie sie ohne Scheitel fallen nach einer Zeit. Ihre Haare haben wir schon am ersten Tag des, wie sich herausstellen wird, sechstägigen Sturms gesehen, als sie draußen vor der Kate mit ihrem Vater das Pferd ausspannt im Wind, und sie wehen in dem heftigen Wind wie die Pferdemähne, nur das Gesicht sehen wir nicht oder noch nicht genug. Das geschieht erst am zweiten Tag, und plötzlich finden wir es hell in der Kate.

    Ich schreibe „wir“. Man will zusammenrücken, wenn man diesen Film von Béla Tarr sieht, zusammenrücken gegen den Wind, der einen zu erfassen scheint, gegen die Kälte, gegen die sich auch die beiden da auf der Leinwand nur mit vielen Kleiderschichten schützen, der Kutscher braucht die Kleider, wenn er aufsitzt auf seinem Pferdekarren, die Tochter braucht sie, Schicht um Schicht, wenn sie morgens hinausgeht die Kate zum Brunnen, ihr langsames Ankleiden sehen wir zum ersten und einzigen Mal am dritten Tag. Man will zusammenrücken gegen die Langsamkeit auch, die einen wie die Kälte erfasst und umspinnt und einspinnt wie die trägen, wenigen, sich fortwährend wiederholenden Akkorde aus Cello oder Orgel oder Akkordeon oder einem unverwechselbar schleifenden Mischmasch aus diesen dreien, die Musik, die immer ertönt, wenn man fast vergessen hat, dass das hier ein Film ist und nicht das langsamste, unumkehrbarste Ende der Welt.

    Ich schreibe „man“. Weil es das Zusammenrücken noch weiter ins Allgemeine treibt; weil es den spärlich besetzten Kinosaal mit Menschenwärme füllt, nicht nur mit den trockenen Blättern, die die nicht endenden Windstöße herunterwehen von der Leinwand, nicht nur mit dem Staub eines langen, trockenen Winters in der Puszta, der so baumarmen ungarischen Weite, diesem Staub, der einem in die aufgerissenen Augen weht. Ich, man, wir wohnen einer höchst ungewöhnlichen Kinoerfahrung bei, nur 29 Einstellungen bei 146 Minuten, alles in einem betörend ausgeleuchteten Schwarz-Weiß, du kannst die Einstellungen mitzählen, an dreimal zehn Fingern minus eins, und jetzt sage ich auch noch „du“. Und nur in der allerletzten, ausnahmsweise kurzen Einstellung leuchtet ein anderes Licht, ist es ein fernes Höllen- oder Himmelsfeuer, denn es jetzt entzündet sich auch das Petroleum nicht mehr, ja, das muss wohl wirklich das Ende der Welt sein, meines und deines und unseres sowieso.

    Geschichten vom Weltenende sind gerade Mode, und ist es nicht so, dass das Kino manchmal die Realität vorauserfindend vorausahnt? Dann müsste die Zeit reif sein, nach Lars von Triers „Melancholia“ zum Beispiel, nur tobt da kein Sturm, sondern Blitze fahren in die Überlandleitungen, während der so schöne, fremde Planet immer näher kommt. Oder wie in Terrence Malicks „The Tree of Life“, wo die Wirklichkeit kleiner Leute gleich ganz ins Kosmische aufgelöst war. Oder wie in „Take Shelter“ von Jeff Nichols, ab nächste Woche im Kino, da plagt einen Familienvater die Vision eines planetenvernichtenden Orkans, der heranjagt übers Meer – also, wenn ich und du und wir es ganz eilig haben mit dem Weltuntergang, der nächste Film wartet schon!

    Béla Tarrs „Das Turiner Pferd“ aber ist der stillste. Der Film, der vielleicht am schwersten auszuhalten ist, wegen dieser Langsamkeit und der Stille. Der Vater also, irgendwo heißt es, er heiße Ohlsdorfer, lebt mit seiner erwachsenen Tochter in der Kate am Ende der Welt. Sein rechter Arm ist lahm, sein rechtes Augenlid lahmt, seine Tochter kleidet ihn an und aus, seine Tochter macht die Wäsche, kümmert sich um das Feuer im Ofen, kocht Kartoffeln, und eigentlich sollte der Vater gleich wieder aufsitzen auf dem Bock seines Karrens und das Pferd hinaustreiben, irgendwelche Aufträge scheinen seine Arbeit zu sein. Aber das Pferd weigert sich, er schlägt auf es ein auf dem staubigwindigen Vorplatz vor der Kate, aber es weigert sich, und das ist das zweite oder ist es das dritte Vorzeichen, es weigert sich so störrisch wie ein Esel.

    Ist es das Pferd, das am 3. Januar 1889 in Turin von seinem Droschkenkutscher geschlagen wurde? Jenes Turiner Pferd, dem Friedrich Nietzsche schluchzend um den Hals fiel, jener Nietzsche, der darob verrückt wurde und fortan umnachtet blieb elf Jahre lang bis zu seinem Tod? Wohnen wir einem nachgetragenen Dokumentarfilm bei, der sich des späteren Schicksals jenes zu trauriger Berühmtheit gelangten Pferdes annimmt bis auch zu des Pferdes Ende? Aber müsste der Kutscher dann nicht Giuseppe, Carlo oder Ettore heißen und nicht Ohlsdorfer, dessen Name, jetzt recherchieren wir aber hartnäckig, bei Google nur mit einem Hamburger Friedhof nebst Stadtteil in Verbindung gebracht wird?

    Fragen über Fragen, die keinerlei Antwort erfordern. Ich stelle sie wahrscheinlich nur, weil ich sprechen will, nachdem ich 146 Minuten lang dem Wind zugehört habe und ein paar Wörtern der beiden Figuren, die so eindrucksvoll von János Derzsi und Erika Bok gespielt werden, wie die beiden überhaupt schon in manchen Béla-Tarr-Filmen mitgespielt haben bis zu diesem, von dem Béla Tarr unnachgiebig behauptet, es werde sein letzter sein. Das erste Wort von den wenigen, die gesprochen werden, ist „fertig“, die Tochter sagt es, als sie das Essen zubereitet hat, und auch am zweiten Tag sagt sie nur „fertig“, als die Schüssel mit den Kartoffeln auf dem Tisch steht, den Kartoffeln, die sie mit den Händen essen an ihrem Ende der Welt, und der Vater hat dafür ein Ritual, das ich auswendig kenne seitdem. Kein Wunder, ich habe dort gewohnt in der Kate 146 Minuten lang, ich war der Vater und die Tochter und das sterbende Tier und, nicht zu vergessen, der Wind.

    (Jan Schulz-Ojala / Der Tagesspiegel, 16.3.2012 )
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    Das Turiner Pferd

    Unentwegt tost der Wind. Selbst im Innern des armseligen Kutscherhauses in einer abgelegenen Ödnis hat man keine Ruhe vor diesem heftigen, lärmenden, auf Dauer quälenden Geräusch. Sechs Tage lang rauscht und bläst es, sechs lange Tage, in denen ein Fuhrmann und seine erwa chsene Tochter mechanisch und nahezu wortlos ihrem ereignisar men Tagewerk nachgehen, das Pferd versorgen, ihr karges Mahl zubereiten, essen, sich an- und auskleiden, schlafen und immer von Neuem weiter machen. Doch nun geht es nicht mehr weiter. Am sechsten Tag ist Schluss. Mit allem. Etwas Grundsätzliches, Existenzielles hört auf. Das Pferd des wortkargen Kutschers und seiner nicht minder stillen, ihm ohne jedes Widerwort dienenden Tochter ahnt dies weit früher als die stoisch dem Daseinsritual folgenden Menschen: Eine Träne im Auge, verweigert ihnen das Tier den Dienst, stellt jede Bewegung, jede Nahrungsaufnahme ein. Auch das Leben spendende Brunnenwasser versiegt; das Feuer im Herd erlischt. Wenn am Anfang allen Lebens das Licht war, dann steuert der Film konsequent seinem Finale zu: Am Ende ist kein Licht.

    Am Abend des fünften Tags, als das Licht der Öllampe und die Flamme im Ofen erlöschen und der menschliche Atem die erkaltende Glut nicht mehr auflodern lässt, als es dunkel und still wird und alles verstummt, da fragt die Tochter des Kutschers: „Was bedeutet das alles?“ Worauf der alte, stoische Mann ihr emotions-, ja geradezu teilnahmslos antwortet: „Ich weiß es nicht. Lass uns ins Bett gehen.“ Dieser schlichte Wortwechsel umreißt das im Grunde unlösbare, ebenso beunruhigende wie herausfordernde Spannungsverhältnis zwischen drängender Erkenntnissuche und fatalistischem Einrichten in den Gegebenheiten – und es hat durchaus auch mit der Situation des Zuschauers zu tun, der sich zweieinhalb Stunden lang diesem rätselhaften, rigorosen und (im guten Sinn) rücksichtslosen filmischen Monolith ausgesetzt sieht, für dessen Rezeption große Konzentration, aber auch physische Kraft von Nöten sind, wobei man nicht vorschnell fragen darf: „Was bedeutet das alles?“

    Solches Nicht-Fragen ist schwer geworden in Zeiten der visuellen Bilderflut, die alles sichtbar macht und suggeriert, dass damit auch alles erklärbar sei. Der ungarisch Regisseur Béla Tarr (Jahrgang 1955) braucht für seinen erklärtermaßen letzten Film hingegen nur 29 Kameraeinstellungen, von denen die meisten so lange dauern, dass man mitunter meint, eine perfekt auskomponierte Fotografie zu betrachten, so dass schon die kleinste Bewegung ausreicht, um in Aufruhr zu versetzen. Wer das erste Mal in Tarrs filmischen Kosmos eintaucht, sollte sich auf ein hartes Stück Arbeit einstellen – ohne sich davon jedoch entmutigen zu lassen! Kein beiläufiges Detail wird hier eine „Auflösung“ oder gar Erlösung bescheren, vielmehr muss man „Das Turiner Pferd“ (wie alle Filme Bela Tarrs) in seiner Gesamtheit atmen und klingen lassen – einfach „nur“ schauen und nachempfinden, was das Unerklärte und Unausgesprochene mit einem anrichtet. Wer sich von der suggestiven Kraft der schwarz-weißen Bilder, der formalen Strenge der Erzählung und dem weit ausschwingenden Rhythmus tragen lässt, der wird sich bereichert fühlen und „das Ende“ womöglich gar nicht mehr als bedrohlich ansehen.

    Auf die Konfrontation mit „letzten Dingen“ haben in jüngster Zeit die kosmischen Entwürfe von Terrence Malick („The Tree of Life“, fd 40 488) und Lars von Trier („Melancholia“, fd 40 662) eingestimmt. Während „The Tree of Life“ noch mit dem leidenden Individuum sympathisierte und sich damit tröstete, dass der Mensch im „großen Ganzen“ aufgehoben sei, suchte von Trier sein Heil in der Auslöschung der Welt. Bela Tarr hingegen erstrebt im Prinzip gar nichts (mehr), er registriert lediglich, konstatiert – und lässt es dunkel werden. Sein Film ist die Konsequenz eines auf das Notwendigste reduzierten Minimalismus, der allein durch seine visuelle Archaik vor jeder Banalität bewahrt wird. Die betörende Fotografie erschafft ihr eigenes Universum abseits platter Erklärungsmuster, sie ist konkret und zugleich visionär, voller Sinnbilder und absoluter Metaphern.

    Alle Filme von Tarr verströmten immer schon ihre ganz spezifische Endzeitstimmung, die sich wie eine Patina über den Menschen und ihrem Verhalten ausbreitete. In einer mitunter kafkaesk anmutenden Welt waren Unordnung und Chaos Teile der bestehenden Ordnung, innerhalb derer die Menschen seltsam gelähmt schienen, ihres selbstbestimmten Handelns beraubt, belastet von etwas Schwerem auf ihrer Seele. Bereits das siebeneinhalbstündige Epos „Satanstango“ (fd 30 808) – in dem es durchgängig so heftig regnete wie jetzt in „Das Turiner Pferd“ der Wind pfeift – gerann zur apokalyptischen Parabel über den Niedergang der Menschheit, die aus der Mitte der Schöpfung in die Bedeutungslosigkeit zurückzufallen droht. Genau diese Drohung tritt nun ein: In „Das Turiner Pferd“ hört es auf, am sechsten Tag der „Handlung“, quasi als dystopische Umkehrung der Schöpfungsgeschichte.

    Wobei es unwichtig zu sein scheint, ob die Welt „aufhört“ oder ob die Menschen zu denken und handeln aufhören. Oder ob beides eng miteinan der verbunden ist. Der Film leitet mit einer knappen Erzählung dessen ein, was Friedrich Nietzsche am 3.1.1889 in Turin geschehen sein soll, als er Empathie für ein gefoltertes Pferd zeigte, ehe er seinen Verstand verlor und zum milden Irren wurde. Lakonisch vermerkt der Off-Erzähler: „Was aus dem Pferd wurde, wissen wir nicht.“ Wie wir im Grund überhaupt nichts wissen, zumindest unseres Wissens nie sicher sein können. Vielleicht tut sich gerade in der finalen Dunkelheit ein neuer, noch gänzlich unentdeckter, unerschlossener Raum auf, der ausschließlich von der Zeit als dem „wahren“ Bezugssystem geprägt ist, in dem nicht mehr zwischen Ende und Anfang, Licht und Dunkelheit getrennt wird. Und vielleicht hat Béla Tarr ja gar nicht die Hoffnung aufgegeben, sondern ist sein immer tieferer Blick nach innen jetzt erst „irgendwo“ angekommen. „Das ist die Hoffnung von Béla Tarr, dass er am Ende, ganz tief unten in uns, etwas finden kann“, mutmaßte schon der Schriftsteller László Krasznahorkai.

    (Horst Peter Koll / film-dienst 6/2012)
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    Das Turiner Pferd

    Es sei sein letzter Film, kündigte Béla Tarr sein ausdruck-
    starkes Schwarz-Weiß-Drama an – und bekam im vergangenen Jahr auf
    der Berlinale den Silbernen Bären für die beste Regie dafür


    Über das Pferd wissen wir nichts.« Das sind die letzten Worte des Auftaktmonologs, mit dem Béla Tarrs Film einsetzt. Die Leinwand war zuvor schwarz geblieben und aus dem Off hatte eine Stimme von jenem Tag in Turin erzählt, dem 3. Januar 1889, als Friedrich Nietzsche aus dem Haus Nummer sechs der Via Carlo Alberto trat, um einen Spaziergang zu machen oder um seine Post zu holen, man weiß es nicht genau, und dann den Kutscher sah, der wütend auf sein störrisches Pferd einpeitschte, woraufhin sich der kräftig gebaute Nietzsche mit seinem mächtigen Schnurrbart dazwischen warf und weinend die Arme um den Hals des geplagten Tieres schlang. Er musste von einem Nachbar nach Hause gebracht werden und lebte von da an noch zehn Jahre dement in der Obhut seiner Mutter und seiner Schwestern. Nun, seine Geschichte ist bekannt. Aber wie gesagt, über das Pferd weiß man nichts.

    Der Ungar Béla Tarr, 1955 in Pécs geboren, macht Filme, die den Zuschauer strapazieren. Zum einen durch ihre Länge – SÁtÁntango, sein vielleicht bekanntester, dauert 450 Minuten –, zum anderen durch ihre langen Einstellungen – The Turin Horse hat, auf 146 Minuten, derer gerade mal um die 30 – und zum Dritten durch ihre Undurchdringlichkeit. Wer verstehen will, um was es in seinen Filmen geht, muss das Wagnis eingehen, zu interpretieren. Etwas, das im modernen Kino nicht gerade geschätzt wird. Doch wie das immer so ist bei anstrengenden Menschen wie Regisseuren, konnte Tarr sich über die bald 25 Jahre seines Schaffens eine treue Gefolgschaft heranziehen, für die jeder neue Film von ihm einen Feiertag darstellt. Weil er eben so viel mehr bietet als bloßes Kinovergnügen: Man macht etwas mit in einem Béla-Tarr-Film; man macht etwas durch.

    The Turin Horse beginnt nach dem oben geschilderten Monolog aus dem Off mit einer langen Einstellung, in der man ein Pferd sieht, das einen Karren zieht, auf dem ein Mann sitzt. Die Gegend ist ländlich, der Himmel bedeckt und der Gegenwind sehr stark. Die Kamera fährt nebenher und schwenkt den Blick vom stapfenden Pferd vorne nach hinten zum Mann und wieder zurück, während eine Orgel- und Streichermusik mit den immergleichen sechs Tönen einen Soundtrack der Düsternis und der Vergeblichkeit unterlegt. Es ist ein bewegtes Ton-Bild, das in seiner Ausdruckskraft an Stummfilm erinnert. Die ersten Zuschauer werden hier schon das Füßescharren beginnen. Andere aber werden augenblicklich gebannt sein von der inneren Spannung, die diesen Schwarz-Weiß-Aufnahmen innewohnt.

    In der nächsten Einstellung, angekündigt als »Tag 1«, sieht man den Mann und seine Tochter in ihrer ärmlichen Kate auf einem scheinbar weit abgelegenen, kargen Grundstück. Die sorgfältige Kadrierung scheint der Banalität der gefilmten Tätigkeit Hohn zu sprechen: Die Tochter hilft dem Vater beim Anziehen, geht mit Eimern hinaus zum Brunnen, deckt ihn ab, holt Wasser, deckt ihn zu, tränkt das Pferd, kommt zurück in die Hütte. Sie kochen Kartoffeln, schälen sie mit bloßen Händen, essen, trinken Schnaps, schauen aus dem Fenster. Sie hilft ihm beim Ausziehen, sie löschen das Licht und legen sich schlafen. »Tag 2« verläuft ähnlich, um nicht zu sagen gleich. Und so geht es weiter. Einmal ziehen Zigeuner vorbei, die Wasser wollen. Ein anderes Mal kommt ein Nachbar, der Düsteres berichtet und von der Nichtigkeit der Existenz philosophiert und dann wieder geht.

    Sicher, das Leben der zwei Menschen auf der Leinwand in ihrer windumtosten Hütte ist beschwerlich, öde und trostlos. Das Zuschauen aber könnte kaum faszinierender, fesselnder und erhellender sein. Die Monotonie des Geschehens ermöglicht die Beobachtung kleinster Abweichungen. Mit jedem Tag müssen sich Vater und Tochter an neue Beschwernisse gewöhnen. Das Pferd verendet, der Brunnen versiegt, der Schnaps geht aus und schließlich auch das Feuer. Ist das die Apokalypse? In immer neuen Ausschnitten nimmt die Kamera (Fred Kelemen) das karge Setting in den Blick. Es ist eine hartnäckige Befragung der menschlichen Existenz. Die Antwort muss sich, wie gesagt, der Zuschauer selbst geben. Der eine sieht den Menschen verdammt zum Weitermachen, der andere seine Lethargie im Angesicht des Todes. Beide sehen einen wunderbaren Film.

    (Barbara Schweizerhof / epd Film 3.2012)
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    Ruhe im Sturm

    Ralph Fiennes und Asghar Farhadi bringen Politik ins Spiel – und der Veteran Béla Tarr erzählt vom Pferd

    [...] Den Filmen der ersten Tage dieser Berlinale sieht man an, dass sie an der sinnlosen Aufgeregtheit leiden – viel Lärm um nichts. Und in diesem Zusammenhang weiß man dann den ruhigen, wortkargen, ganz aufs Wesentliche konzentrierten Film des ungarischen Veteranen Béla Tarr erst richtig zu würdigen – inmitten der Beliebigkeit der Bilder, die permanent Aktion vorspiegeln, wo gar keine ist.
    Tarr erzählt in seinem neuen Film „A torinói ló/Das Pferd von Turin“, von dem er sagt, es werde sein letzter sein, sozusagen eine Geschichte vom Pferd. Ausgangspunkt ist der Mitleidsanfall, den Nietzsche hatte kurz vor der geistigen Umnachtung, der Prolog fasst das kurz (und komisch) zusammen – wie Nietzsche einem Pferd um den Hals fiel, das vom Kutscher mit der Peitsche malträtiert wurde, und dann zuhause langsam wegdämmerte. Nur vom Pferd hörte man nie wieder. Ob es nun wirklich dieses Pferd und dieser Kutscher sind – das bleibt im Film ein wenig unklar, denn der alte Mann hat einen gelähmten Arm und ist viel zu gebrechlich, um dem Tier noch Gewalt anzutun. Die beiden sehen wir am Anfang auf dem Heimweg, in einer Einstellung, die zehn Minuten dauert, wie sie sich durch einen Sturm kämpfen – eine grandiose Szene, be der man sich kaum erklären kann, wie Tarr sie eigentlich gefilmt hat.
    In „Das Pferd von Turin“ wird wenig gesprochen, bis auf den Monolog eines Nachbarn in der Mitte, der nietzscheanisch den Weltuntergang prophezeit. Man sieht nur den Kutscher, seine Tochter, jeden Winkel ihres baufälligen Hauses in der Mitte von Nirgendwo – die täglichen Verrichtungen, das karge schwere Leben, das sterbende Pferd, und draußen der Sturm, dazu ein monotones Geigenstück oder der apokalyptische, nicht enden wollende Sturm, der klingt wie diese Musik von Ferne. Dass daraus eine Geschichte wird, eine spannende noch dazu, das liegt nicht nur daran, dass diese klar strukturierten Bilder in ihrer morbiden Schönheit einen magischen Sog entwickeln, hier wird einfach Existentielles verhandelt; es geht ums Überleben. [...]

    Süddeutsche Zeitung - Susan Vahabzadeh
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    Ein Königreich für ein Pferd

    Streng, schön und schweigend: "A torinói ló (Das Turiner Pferd)" von Béla Tarr

    Alle paar Jahre läuft ein neuer Film von Béla Tarr auf einem der großen Festivals der Welt. Manche fürchten sich vor diesen Vorführungen, nicht wenige aber sehen ihnen auch mit Spannung entgegen. Die Filme des ungarischen Regisseurs sind nämlich eine enorme Herausforderung für den Zuschauer. Béla Tarr braucht schon mal siebeneinhalb Stunden, um eine Geschichte zu erzählen: in "Satanstango", der auf einem Roman von Lßszló Krasznahorkai beruht und 1994 im Forum der Berlinale gezeigt wurde. Tarr hatte seinem Film genau die Zeit gegeben, die er benötigte, um Krasznahorkais Roman zu lesen.

    Das war der Durchbruch. Tarr wurde berühmt; Regisseure wie Gus Van Sant berufen sich seither auf ihn. "Werckmeister Harmónißk" (2000) lief dann wieder im Berlinale-Forum - als neuerliches Zeugnis einer originären Dramaturgie und Bildsprache. Béla Tarrs Filme sind in Schwarzweiß gedreht, es gibt in ihnen sehr, sehr lange Einstellungen und vergleichsweise wenig von dem, was man Handlung nennt. Was im Glücksfall dazu führen kann, dass der Zuschauer Raum und Zeit vergisst. Und anders wahrnimmt: Tatsächlich sind diese Filme eine Bewusstseinsfrage.

    Man war also gespannt auf Tarrs neuen Film - zumal er von einer Schlüsselsituation der Philosophiegeschichte inspiriert war: Am 3. Januar 1889 verließ Friedrich Nietzsche seine Unterkunft in Turin, vielleicht um spazieren zu gehen, vielleicht auch um die Post aufzugeben. Als er sieht, wie ein Kutscher auf seinen unwilligen Gaul einprügelt, erleidet er einen Zusammenbruch, er umarmt und küsst das Pferd. Danach wird Nietzsche heimgebracht, zwei Tage liegt er stumm; seine letzten zehn Lebensjahre verbringt er in geistiger Umnachtung. "Über das Pferd wissen wir nichts", heißt es im Vorspann zu Tarrs neuem Film. Das will der Regisseur ändern, und er will noch mehr. Im Mittelpunkt von "A torinói ló (Das Turiner Pferd)" stehen der Kutscher und seine Tochter. Der Sturm umtost ihre armselige Hütte auf dem Lande.

    Béla Tarr zelebriert nun, gegliedert in fünf Tage, immer gleiche Abläufe: Das Pferd wird auf- und abgezäumt, gefüttert und getränkt. Der Vater wird von der Tochter entkleidet, dann legt er sich zu Bett. Die junge Frau bereitet das immer gleiche karge Mahl zu, das schweigend verzehrt wird. Der Blick aus dem Fenster ist hoffnungslos, vielleicht auch gottergeben. Was Mensch und Tier erlangen wollen - Schutz, Nahrung -, müssen sie der Natur mühselig abtrotzen, während der Sturm sie beugt. Immer wieder beginnt das von vorn.

    "A torinói ló" ist ein hochverdichteter, abstrakter Film, mit atemberaubend schönen, sehr streng kadrierten Bildern. Man kann darin eine philosophische Reflexion, vielleicht sogar über den Nihilismus sehen. Oder eine über die geschundene Kreatur an sich. Sicher ist nur: "A Torinói ló" ist ein Monolith. Sich ihm nähern - das kann man nicht.

    Berliner Zeitung - Anke Westphal, 16.02.2011
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    Hier finden Sie weitere Artikel zum Film im Netz:

    Sack und Asche - Grandiose Monotonie: Béla Tarr lässt in seinem Film "Das Turiner Pferd" die Welt untergehen. Thomas Assheuer / Die Zeit, 18.3.2012 - Link zum Artikel

    Sechs Tage bis zum Weltuntergang - Herz der Finsternis und ästhetische Offenbarung: In Béla Tarrs meisterlichem Film „Das Turiner Pferd“ wird der Reichtum der abendländischen Kunst in die öde Wohnzimmerstube hineingeholt. Andreas Kilb / FAZ, 18.3.2012 - Link zum Artikel

    „Ach, Blödsinn!“ - War es das jetzt? Im Film „Das Turiner Pferd“ schaut Béla Tarr der Welt beim Vergehen zu und nimmt das Ende des analogen Films vorweg. Andreas Busche / taz, 14.3.2012 - Link zum Artikel

    "Das Turiner Pferd" im Kino - Der ungarische Meister Béla Tarr erzählt vom dem Tier, dem Freidrich Nietzsche einmal um den Hals fiel. Ekkehard Knörer / tip Berlin, 14.3.2012 - Link zum Artikel