•  
  •  
  •  

  •  


  • Alte Lied, Das

    D 1991, Spielfilm, 35mm + DVD, Farbe, 82 Minuten

    Vorfilm: Rede nur niemand von Schicksal

    BESETZUNG

    Katharina
    Alf
    Rudolf
    Sofie
    Karl
    Johanna
    Stefan
    Thomas
    Frau Schiller
    Herr Schiller
    Dampferpassagiere
    Würfelspieler
    Sofie als Kind
    Katharina jung
    Rudolf jung
    Karl als Kind


    Lotte Meyer †
    Alfred Lübke
    Rolf Dietrich
    Dora Traudisch
    Olaf Hörbe
    Jeanne Richter
    Michael Böhm
    Peter Meining
    Kristina Busch
    Günter Kurze
    Matthias Pfitzner, Andrej Krabbe
    Daniel Oswald, Frank Keon
    Sabine Hörbe
    Simone Peikert
    Volkmar Umlauft
    Markus Peikert

    und als Gast: Grischa Huber

    STAB

    Buch und Regie
    Mitarbeit
    Kamera
    2. Kamera
    Ton
    Tontechnik
    Schnitt
    Mischung
    Musik


    Beleuchtung
    Maske
    Kostüm
    Script
    Standfotografie
    Fahrer
    Produktionsleitung
    Aufnahmeleitung
    Produzentin
    Produktion







    Ula Stöckl
    Ulrike Herdin
    Rali Raltschev, Stefan Ivanov, Alexander Zlatev, Jens Kunkel
    Julia Kunert
    Hartmut Haase, Norbert Nestler
    Ingo Kock, DEFA Studios Potsdam
    Monika Schindler, Doris Möhring
    Klaus Hornemann, DEFA Studios Potsdam-Babelsberg, Lily Grote
    Alexander Kraut sowie Arrangements:
    „Das Lied der Deutschen“
    und Adagio aus Konzert Nr. 4 von Nicolo Paganini
    Erhard Kannegiesser, Steffen Kober
    Andrea Kraft
    Marlies Lilienthal, Silke Führig
    Detlev Skowronek
    Jeanne Richter
    Dirk Gottlebe, Gerald Stiller
    Hartmut Krenz
    Volkmar Umlauft, Christiane Zwick
    Clara Burckner
    Basis-Film Verleih GmbH
    in Koproduktion mit: Ula Stöckl Filmproduktion Filminitiative Dresden e.V.
    in Zusammenarbeit mit Defa-Studios Babelsberg

    gefördert von: Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg, Kulturelle Filmförderung Hamburg, Hessisches Filmbüro, Berliner Filmförderung

    BIOGRAFIE

    Ula Stöckl, 1938 geboren in Ulm ging nach der Mittleren Reife als 16jährige ins Büro, mit 20 an Sprachschulen in Paris und London und arbeitete danach bis 1963 als Direktionssekretärin.
    Sie studierte dann 5 Jahre an der Hochschule für Gestaltung in Ulm.
    Seit 1968 entstand bis 1977 jährlich ein Film, danach weitere.














    FILME

    1964
    1965
    1966
    1968
    1969
    1971

    1972
    1973

    1974
    1975
    1976
    1977
    1982
    1984

    1987
    1991








    1991
    1993
    1993
    Ula Stöckl hat bis jetzt folgende Filme gemacht:

    ANTIGONE (Kurzfilm)
    HABEN SIE ABITUR (Kurzfilm)
    SONNABEND 17 UHR (Kurzfilm)
    NEUN LEBEN HAT DIE KATZE (im Basis-Film Verleih)
    GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND (im Basis-Film Verleih)
    DAS GOLDENE DING
    SONNTAGSMALEREI (Kurzfilm)
    HIRNHEXEN
    DER KLEINE LÖWE UND DIE GROSSEN
    EIN GANZ PERFEKTES EHEPAAR
    HASE UND IGEL
    POPP UND MINGEL
    ERIKAS LEIDENSCHAFTEN
    EINE FRAU MIT VERANTWORTUNG
    DIE ERBTÖCHTER
    DER SCHLAF DER VERNUNFT (im Basis-Film Verleih)
    WUT IM BAUCH
    UNERHÖRT
    REDE NUR NIEMAND VON SCHICKSAL (Kurzfilm)
    Vorfilm von Ula Stöckl zu "Das alte Lied"
    Texte aus Hyperion von Hölderlin mit Grischa Huber
    Ton: Hartmut Haase
    Kamera: Julia Kunert und Lily Grote
    Schnitt: Monika Schindler
    Regie: Ula Stöckl
    Kurzfilm,9 Minuten,35 mm

    DAS ALTE LIED ...
    WILDE BÜHNE
    HERZKURVE


    INTERVIEW

    "Recht und Freiheit, und dann Einigkeit" aus einem Gespräch Ula Stöckl mit Karsten Witte

    Witte:
    Es gibt eine Vielstimmigkeit in diesem Film durch zwei deutsche Sprachen und auch zweifaches deutsches Schweigen, durch verschiedene Arten mit Bildern umzugehen. Ich glaube, ein Reichtum liegt darin, dass der Film weder die Vereinigung als Tragödie zeigt, noch als Farce, noch als Idyll. Es kommen ganz verschiedene Genres zutage. Zwischen der Fiktion sieht man fast dokumentarische Passagen unter den jungen Leuten, die fast improvisierte Gespräche führen mit der Last der deutschen Historie, die immer wieder in allen Teilen dieser Familie aufblitzt.

    Stöckl:
    Ohne die offene Form wäre ich Gefahr gelaufen, mich nur mit dem rückwärts gewendeten Blick der alten Leute zu beschäftigen, was sowieso eine große Versuchung war, weil ich immer noch fasziniert bin von dieser Vergangenheit der Eltern und Großeltern und davon, zu welchen Brüchen das geführt hat. Auch die Rolle unserer Mütter im Krieg und danach zum Beispiel. Wir verdanken unseren Müttern das Überleben, aber Widerstand zu leisten, konnten sie uns nicht lehren. Auf der anderen Seite habe ich eine junge Generation kennengelernt, die an dieser Art von Geschichtsaufarbeitung nicht interessiert ist. Sie sind daran interessiert, und das finde ich auch sehr spannend, das Hier, Heute und Jetzt zu leben und zu begreifen.

    Witte:
    Die jungen Leute streiten noch, war Ilse nun eine Widerständlerin, oder war sie keine. Was passiert in der eigenen Familie mit diesem Mythos?

    Stöckl:
    Für mich beginnt der Widerstand im Alltag. Zum Beispiel mit einem Lachen in einer Situation, wo alle anderen ehrfürchtig schweigen und durch dieses Schweigen einer Situation scheinbar ihre Zustimmung geben. Für mich ist der Widerstand von Ilse dieser kleine Silberstreif an einem dunklen Horizont, der Hoffnung gibt.

    Witte:
    Siehst Du eine Hoffnungsträgerin oder einen Hoffnungsträger der Zivilcourage in der Enkelgeneration?

    Stöckl:
    Ja,sehe ich. Allerdings mit verschiedenen Erfolgsaussichten.

    Witte:
    Welche Figur wäre Deine Favoritin?

    Stöckl:
    Meine Hoffnungsträgerin ist die Fotografin Johanna. Aber es ist möglich, dass sie an derselben Kompromisslosigkeit scheitert wie Ilse. Die heutigen Hindernisse sind anderer Art. Johanna könnte daran scheitern, ihre Überzeugungen kapitalisieren zu sollen, um überleben zu können. Wenn sie zum Beispiel erlebt, dass man sie als Fotografin hoch schätzt, ihre Bilder aber dennoch anders haben will, als sie sie macht. Dann hört sie möglicherweise auf zu fotografieren, wie sie aufgehört hat, zu sprechen. Die Videofrau Sofie hingegen findet mit ihrer silbernen Sprache und ihren Videofilmen vielleicht den richtigen Sender: Aber auch bei ihr ist das nicht sicher. Die beiden jungen haben die richtige Einstellung zum jetzt gefragten Erfolg. Johanna ist für mich die mögliche Nachfolgerin der Ilse.

    Witte:
    Das zeigt das Schlußbild des Films. Die Enkel stehen am Kiosk, trinken Kaffee und sind nicht einander zugewendet. Es ist ein klassischer Ort des "Dazwischen", nicht drinnen und nicht draußen, keine Wohnung, kein Caféhaus. Die Ost-Enkel glauben aber doch, sie haben eine Zukunft. Allein die ironische Fotografin sagt zu ihnen: "Projekte, Projekte." Und dann erklingt nochmal zitternd und zersungen das Deutschlandlied zum Bild des sowjetischen Jeeps, der da abbiegen will und sich nicht links einordnen kann... Mir scheint, dass das ein Bild von fragwürdiger Hoffnung sei. Also fragwürdig im besten Sinne.

    Stöckl:
    Es ist für ich so hoffnungsvoll wie jedes Provisorium. Solange etwas noch nicht endgültig ist, und für die Ewigkeit eingerichtet, gibt es noch viele Nischen, Möglichkeiten und große Hoffnungen, dass sich an der einen oder anderen Relaisstelle noch etwas ändern lässt. Das alte Lied muss neu gesungen werden, das ist meine Interpretation des Fallersleben-Liedes. Natürlich muss man das Recht haben zu betrauern, dass dieses sehr schöne Deutschland zu dem wurde, was es jetzt ist. Man muss aufpassen, dass nicht die alte deutsche Treue, Nibelungentreue, wieder neu entstehen kann.

    Witte:
    Deshalb wird das Lied ja nicht gesungen,sondern es wird stockend gefragt.

    Stöckl:
    Ich will nicht haben, daß da ein altes Deutschland neu aufersteht. Auch die Betonung auf deutsch, in der zweiten Strophe, welche Anmaßung. Natürlich soll ich stolz sein dürfen, daß auch deutscher Wein trinkbar ist. Aber wie schrecklich, wenn es der einzige sein sollte.


    Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden hat mit der nachstehenden Begründung dem Film das Prädikat <> erteilt:

    Eine Fülle von Spiel-und Dokumentarfilmen nahm sich in den vergangenen Jahren des Themas der Wiedervereinigung und der damit verbundenen großen Schwierigkeiten im Zusammenfinden und dem Verstehen der Menschen von Ost und West in unserem Lande an. Ula Stöckl, die seit acht Jahren keinen Film mehr machen konnte, hat sich nie mit halben Sachen begnügt. Wenn sie sich eines Themas annahm, dann auf definitive Weise immer so, als sie es ihr letzter Film. So hat sie im Gegensatz zu anderen Filmemachern nicht nur eine Geschichte oder einen bestimmten Aspekt deutsch-deutscher Problemaktik herausgegriffen, sondern versucht, alles was sie bewegt, in einen einzigen Film einzubringen. Ein fast unlösbares Vorhaben, deutsche Geschichte in 85 Minuten umfassend darzustellen, das Leben einer Familie aufzuarbeiten, das in zwei Richtungen gelaufen ist und sich nun erstmals nach 40 Jahren in Dresden wieder zusammenfügt. Ula Stöckl hat eine besondere filmische Form gewählt, um uns dieses Thema nahezubringen. Sie erzählt nicht mit kontinuierlichem realistischem Stil, sondern auf überhöhte und sehr künstlerische Weise. So sind viele Szenen inhaltlich nur angerissen, stark verkürzt und werden nicht ausgespielt. Die Dialoge wirken teilweise plakativ, manchmal bis zur Schmerzgrenze. Wenn man sich aber auf diese besondere künstlerische Erzählform einmal eingelassen hat, schaut man fasziniert zu. Der Film ist optisch sehr sorgfältig und behutsam gestaltet. Die Kamera zaubert Bilder durch außergewöhnliche Sehweisen und große cinematografische Präsenz. Das "Lied der Deutschen" wurde auf eindrucksvolle Weise interpretiert und trägt mit zu einer besonderen filmischen
    Atmosphäre bei.


    „Recht und Freiheit und dann Einigkeit“
    Ula Stöckl im Gespräch mit Karsten Witte
    am 8. 2. 1992

    Ula Stöckl: Meine Frage in diesem Film war unter anderem die: Wie tot ist etwas, was sich dennoch lebendig bewegt, und wie lebendig ist etwas scheinbar so Totes wie eine Ruine? Anders gesagt: Können Kriege überhaupt überlebt werden, auch wenn sich neues Leben aus den Ruinen entwickelt hat?

    Karsten Witte: Nun heißt dein Film nicht „Das alte Haus“, sondern „Das alte Lied . . .“, ein Zitat aus dem Hölderlin-Roman „Hyperion“. Lied und Liedhaftigkeit, Gesungenes, sarkastisch Zersungenes, nämlich das Deutschlandlied spielen ja auch eine Rolle. Wenn du nach Dresden kommst, könnte man genauso singen, „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt . . .“, die Nationalhymne der alten DDR. Nun hast du dich für das 1848er Lied entschlossen. Wie klingt das alte Lied?
    Ula Stöckl: Das sind nicht nur die deutschen Mythen, das sind auch die Archetypen. Menschen werden durch immer wieder gleiche Konflikte an Scheidewege in ihrem Leben geführt, wo schicksalhaft, wie es scheint, Entscheidungen von ihnen verlangt werden, die gleichermaßen unglücklich für sie ausfallen.

    Karsten Witte: Ist hier die Reise von Hamburg nach Dresden der Schicksalsweg?

    Ula Stöckl: Die Rückkehr von Hamburg nach Dresden ist unglückselig in dem vielleicht einen Wunsch zuviel der Protagonistin Katharina, die sich für alle Wünsche, die sie hat, auch noch den Segen aller Beteiligten vorstellt. Das ist ein Nicht-Einschätzen können der wirklichen Verhältnisse. Und das kommt mir vor als etwas sehr Deutsches. Man greift immer nach Sternen.

    Karsten Witte: Ist das eine westliche Erscheinung, die die mehr haben wollen als sein wollen? Im Kontrastprogramm zu Ostdeutschen, denen man mehr soziale Wärme, mehr Kommunikation, auch Enge und Nähe zuschreibt?

    Ula Stöckl: Das alte Lied ist, dass sie lügen. Ich denke nicht, dass sie mehr haben wollen als andere. Habgier findet sich auf der ganzen Welt. Für mich ist ein wichtiges Thema, dass jeder hier eine ganz bestimmte Wahrheit zum besten gibt, weil es das Arrangement ist, das er mit sich und seinen Verfehlungen und seinen Schwächen hat treffen können um überhaupt zu überleben.

    Karsten Witte: In beiden Deutschländern?

    Ula Stöckl: Ganz sicher. Denn der eine muss sich damit auseinandersetzen, dass er dort seinen Platz wahrgenommen hat, und die andere muss sich damit auseinandersetzen, dass sie natürlich auch im Westen etwas ganz bestimmtes wollte. Katharina drückt das deutlich aus: im Westen bekam sie Kriegerwitwenrente, und die Kinder bekamen dafür Rente, dass sie Kriegsopfer waren. Mit diesem Geld konnte Katharina es sich finanziell leisten, den Kindern genau die Mutter zu sein, die sie immer sein wollte. Etwas, was im Osten so nicht möglich war, weil die Frauen von Anfang an andere Möglichkeiten hatten, ihre Kinder unterzubringen und selber einen Beruf auszuüben. Das wollte Katharina aber gar nicht.

    Karsten Witte: Nun zeigst du deinen ganzen Kosmos, der gezeigt, gleich wieder zerfällt: ein kleines Deutschland und eine große Familie, die trotzdem nicht mehr so zusammengehören, die entfremdet zerrissen sind. Träumen alle den gleichen Traum? Oder haben sie alle nur die Lüge als Strategie?
    Ula Stöckl: Sie handeln blind fürs eigene Handeln, vielleicht sogar fürs eigene Fühlen. Unter eigenem ICH würde ich verstehen, dass sie ein Bewusstsein dafür haben, was sie tun. Also auch dafür, was für Verfehlungen sie in ihrem Leben zu verantworten haben. Nun ist es aber so, dass aus der Großväter- und Großmüttergeneration, die im zweiten Weltkrieg jung waren, also unsere Eltern, oder die heute 50jährigen aus der ehemaligen DDR es kaum fertig bringen, für sich selbst anzuerkennen, worin denn gefühlsmäßig und gedanklich ihre Verfehlung bestanden haben mag. Noch viel weniger können sie darin den Ursprung ihrer Folgehandlungen erkennen.

    Karsten Witte: Das klingt protestantisch in dem Argument, die Wahrheitsethik gegen die Lebenslüge zu setzen. Aber geht der Riss nicht auch durch die Geschlechter und nicht nur durch die Generationen? Die Jungen sind nicht automatisch die Besseren, und die Männer nicht automatisch die Schlechteren.

    Ula Stöckl: Nur, dass die Jungen am Anfang ihrer Lebenslügen stehen und insofern noch nicht in der Lage waren, schon Handlungen begangen zu haben, die schon etwas zementieren könnten. Es ist ja bei den Jungen noch so, dass es ja auch ihre Umwelt und die Umstände sein werden, die ihnen noch eine Chance bieten könnten, sich so oder so in ihrem Leben zu verhalten. Was deutlich ist, denke ich, dass der eine Mythos Ilse, die Frau die in den Köpfen aller herumspukt, eine Utopie ist, die über die Zeiten hinweg immer wieder in die Herzen geht. Als Sängerin könnte sie das neue Lied gesungen haben. Sie könnte die alte und neue Utopie von Freiheit sein. Im Film wird ja darauf verwiesen, dass Freiheit ein schönes Wort sei, wenn man es nur recht verstünde.

    Karsten Witte: Du konfrontierst zwei junge Frauen, die zur gleichen Familie gehören, aber offensichtlich eine verschiedene Sprache sprechen. Sie benutzen zwei unterschiedliche Medien. Die Frau aus Köln ist eine Videofrau und die Frau aus Ost-Berlin ist Fotografin. Sie haben ganz unterschiedliche Reaktionsweisen. Die Westfrau redet dogmatischer, als man es erwartet. Die Ostdeutsche schweigt, macht aber ironische Kommentare. Und einmal bekommen sie sich gegenseitig ins Visier. Wie beurteilst du die Chancen zum kommunikativen Handeln?

    Ula Stöckl: Ich denke, dass es möglich ist, aber dass es sehr schwierig und und schmerzlich ist. Wenn die Ostfrau bis zum Schluss so gut wie jede Kommunikation verbaler Art verweigert, dann kommt das aus ihrem Erfahrungsbereich: Schweigen war Gold. Während die andere aus dem Westen verbal sehr geschult ist, weil sie mit ihrer Sprache auch in Silber machen muss. Sie lebt davon, dass sie Videofilme macht. Es ist Absicht, dass dieses Bild ziemlich am Schluss des Films steht, dass diese Frauen wenigstens über ihre Bilder, die ja non-verbal sind, sich endlich mal wenigstens anlächeln. Das ist schon ganz viel für zwei Menschen, die sich ansonsten überhaupt nichts zu sagen haben.

    Karsten Witte: Die Figuren zeigen sehr schön, dass die Möglichkeit nicht verbaut ist. Die könnten anfangen, sich was zu fragen. Ich möchte das übersetzen auf die Entstehungsgeschichte des Films. Du besetzt nicht realistisch, aber plausibel in der Umkehr: Ostler als heimkehrende Westler. Wie war das in Wirklichkeit eurer Dreharbeit?

    Ula Stöckl: Ich wollte eine Geschichte erzählen, die weder den Westdeutschen noch den Ostdeutschen sehr gefällt. Aber aus unterschiedlichen Gründen.
    Eines schönen Sonntagnachmittags, völlig überraschend, betreten die Besitzer aus dem Westen als die Herren dieser Liegenschaften im Osten die Gärten und die Häuser, sich überhaupt nicht darum kümmernd, dass da andere Familien, Kinder, junge Menschen, schon alte Menschen, inzwischen vierzig Jahre dort leben, völlig legitim aus ihrer Sicht.

    Karsten Witte: Landnahme.

    Ula Stöckl: Mir kam es darauf an, Schauspieler zu finden, die vor allem diese Erfahrung nachvollziehen konnten und schon aus diesem Grund nicht aus dem Westen kommen sollten. Aber auch in Bezug auf die Sprache hatte ich das Gefühl, dass ich diesen Film nicht mit Westschauspielern machen sollte. Ich habe sehr darauf geachtet, dass alles, was im Film an Sprache vorkommt, im Einverständnis mit den Schauspielern aus Dresden inszeniert wird.

    Karsten Witte: Waren die Dialoge nach Absprache mit deinen ostdeutschen Darstellern und Darstellerinnen festgelegt, waren sie offen?

    Ula Stöckl: Also die Dialoge waren zunächst festgeschrieben. Für mich ist das Prinzip der Improvisation damit verbunden, dass Du erstmal ein Angebot machst. Meine Darsteller haben mir Sicherheit dadurch gegeben, dass sie mir als Bürger der alten DDR bestätigen konnten, was ich auf dem Papier entworfen hatte. Aber noch viel wichtiger war das Erlebnis, in meinen Dresdner Darstellern Verbündete für meine Geschichte gefunden zu haben. Das Thema dieses Films lag ihnen sehr nahe. Da war viel vertrautes, dem sie in der Gestaltung auf den Weg helfen wollten und geholfen haben. Sie gaben mir die Sicherheit, dass niemand von mir diffamiert oder bloßgestellt wird. Damit meine ich nicht, ob sie selber Erfahrungen gemacht haben, die mit meiner ausgedachten Geschichte identisch sind, sondern damit meine ich die Gefühle, die ein ostdeutscher Mensch und Schauspieler hat, wenn plötzlich die Westdeutschen im Vorgarten stehen, das Haus betreten und nicht mal Hoppla sagen. Persönlich habe ich keinerlei Erfahrungen mit dem Leben in Ostdeutschland. Was ich weiß, habe ich alles aus zweiter Hand. Und so wollte ich auch damit umgehen.

    Karsten Witte: Das ist der Stil des Films: in Behutsamkeit etwas zu entdecken. Mehr Fragen zu stellen, als Antworten zu liefern, oder wenn Antworten kommen, auch zu zeigen, dass sie zu früh kommen. Wie im Gespräch auf dem Dampfer über Mieten und in der Kneipe, dass über Politik geht. Und wo immer vorschnelle Lösungen durch einen kleinen Kommentar von außen, durch ein Ironie oder Skepsis konterkariert werden. Man liest: „Dresden1990.“ Das ist eine bewusst gezeichnete Momentaufnahme.

    Ula Stöckl: Der Moment Dresden 1990 war nicht der Moment Dresden 1989, meinem ersten Dresdenbesuch, bei dem ich auf noch ganz andere Weise junge Menschen angetroffen habe, deren Offenheit im Dezember 1990 bereits verschwunden war. Sie waren schon verhärtet, sie waren schon fertig mit der Demokratie.

    Karsten Witte: Es gibt eine Vielstimmigkeit in diesem Film durch zwei deutsche Sprachen und auch zweifaches deutsches Schweigen, durch verschiedene Arten mit Bildern umzugehen. Ich glaube ein Reichtum liegt darin, dass der Film weder die Vereinigung als Tragödie zeigt, noch als Farce, noch als Idyll. Es kommen ganz verschiedene Genres zutage. Zwischen der Fiktion sieht man fast dokumentarische Passagen unter den jungen Leuten, die fast improvisierte Gespräche führen mit der Last der deutschen Historie, die immer wieder in allen Teilen dieser Familie aufblitzt.

    Ula Stöckl: Ohne die offene Form wäre ich Gefahr gelaufen, mich nur mit dem rückwärts gewendeten Blick der alten Leute zu beschäftigen, was sowieso eine große Versuchung war, weil ich immer noch fasziniert bin von der Vergangenheit der Eltern und Großeltern und davon, zu welchen Brüchen das geführt hat. Auch die Rolle unserer Mütter im Krieg und danach zum Beispiel. Wir verdanken unseren Müttern das Überleben, aber Widerstand zu leisten, konnten sie uns nicht lehren. Auf der anderen Seite habe ich eine junge Generation kennen gelernt, die an dieser Art von Geschichtsaufarbeitung nicht interessiert ist. Sie sind daran interessiert, und das finde ich auch sehr spannend, das Hier, Heute und Jetzt zu leben und zu begreifen.

    Karsten Witte: Die jungen Leute streiten noch, war Ilse nun eine Widerständlerin, oder war sie keine. Was passiert in der eigenen Familie mit diesem Mythos?

    Ula Stöckl: Für mich beginnt der Widerstand im Alltag. Zum Beispiel mit einem Lachen in einer Situation, wo alle anderen ehrfürchtig schweigen und durch dieses Schweigen einer Situation scheinbar ihre Zustimmung geben. Für mich ist der Widerstand von Ilse dieser kleine Silberstreif an einem dunklen Horizont, der Hoffnung gibt.

    Karsten Witte: Siehst du eine Hoffnungsträgerin oder einen Hoffnungsträger der Zivilcourage in der Enkelgeneration?

    Ula Stöckl: Ja, sehe ich. Allerdings mit verschiedenen Erfolgsaussichten.

    Karsten Witte: Welche Figur wäre deine Favoritin?

    Stöckl: Meine Hoffnungsträgerin ist die Fotografin Johanna. Aber es ist möglich, dass sie an der selben Kompromisslosigkeit scheitert wie Ilse. Die heutigen Hindernisse sind anderer Art. Johanna könnte daran scheitern, ihre Überzeugungen kapitalisieren zu sollen, um überleben zu können. Wenn sie zum Beispiel erlebt, dass man sie als Fotografin hoch schätzt, ihre Bilder aber dennoch anders haben will, als sie sie macht. Dann hört sie möglicherweise auf zu fotografieren, wie sie aufgehört hat, zu sprechen. Die Videofrau Sofie hingegen findet mit ihrer silbernen Sprache und ihren Videofilmen vielleicht den richtigen Sender. Aber auch bei ihr ist das nicht sicher. Die beiden jungen Männer, die Ost-Enkel werden sich erfolgreich dem Neuen anpassen. Sie haben die richtige Einstellung zum jetzt gefragten Erfolg. Johanna ist für mich die mögliche Nachfolgerin der Ilse.

    Karsten Witte: Das zeigt das Schlussbild des Films. Die Enkel stehen am Kiosk, trinken Kaffee und sind sich nicht einander zugewendet. Es ist ein klassischer Ort des „Dazwischen“, nicht drinnen, nicht draußen, keine Wohnung kein Café' Haus. Die Ost-Enkel glauben aber doch, sie haben eine Zukunft. Allein die ironische Fotografin sagt zu ihnen: „Projekte, Projekte.“ Und dann erklingt noch mal zitternd und zersungen das Deutschlandlied zum Bild des sowjetischen Jeeps, der da abbiegen will und sich nicht links einordnen kann... Mir scheint, dass das ein Bild von fragwürdiger Hoffnung sei. Also fragwürdig im besten Sinne.

    Ula Stöckl: Es ist für mich so hoffnungsvoll wie jedes Provisorium. Solange etwas noch nicht endgültig ist, und für die Ewigkeit eingerich-
    tet, gibt es noch viele Nischen, Möglichkeiten und große Hoffnungen, dass sich an der einen oder anderen Relaisstelle noch etwas ändern lässt. Das alte Lied muss neu gesungen werden, das ist meine Interpretation des Fallersleben-Liedes. Natürlich muss man das Recht haben zu betrauern, dass dieses sehr schöne Deutschland zu dem wurde, was es jetzt ist. Man muss aufpassen, dass nicht die alte deutsche Treue, Nibelungentreue, wieder neu entstehen kann.

    Karsten Witte: Deshalb wird das Lied ja nicht gesungen, sondern es wird stockend gefragt.

    Ula Stöckl: Ich will nicht haben, dass da ein altes Deutschland neu aufersteht. Auch die Betonung auf deutsch, in der zweiten Strophe, welche Anmaßung. Natürlich soll ich stolz sein dürfen, dass auch deutscher Wein trinkbar ist. Aber wie schrecklich, wenn es der einzige sein sollte.

    Karsten Witte: Ich komme auf die Vielstimmigkeit von Geschichte zurück, die du in Geschichten auflöst. Immer dann, wenn die Kamera über die Elbe, über das Flusswasser, über die erleuchtete Stadt schwenkt, erklingt Paganinis Violinkonzert. Dresden leuchtet, wenn ich an den Thomas Mann-Satz erinnern darf („München leuchtete“). Du bringst die Stadt selber durch diesen Schwenk in Besonderheit. Verschwimmende Oberflächen sind auch eine neue Frage. Gehst du mit dem Stadtbild anders um als mit dem Familienbild?

    Ula Stöckl: Dresden ist ein Ort, an dessen Elbufer man sich gut niederlassen kann. Und tief in uns drin, tief auf dem Grund der Elbe, überschwemmt von den fließenden Wassern der Flüsse und des Lebens verbirgt sich die unstillbare Sehnsucht der Menschen nach Glück. Und es könnte einfach sein, wie das Lied. Aber wir wissen, dass nichts einfach ist, höchstens einen Moment lang. Einen Nachmittag lang, wenn man am Fluss sitzt, zum Beispiel, ins Wasser schaut. Oder die wiederaufgebaute Silhouette von Dresden bewundert.

    Karsten Witte: Oder wenn uns der Vater das Märchen vom Hans im Glück erzählt.

    Ula Stöckl: Und wir ihm zuhören und darüber träumen können, was denn nun Hansens Glück wirklich ist, weil seine Vorstellung davon sich immer dann schon wieder verändert hat, wenn sich ihm ein Wunsch erfüllt hat. Alles ist ständig in Bewegung, in Veränderung. Eben war's noch da, jetzt ist es woanders. Was mich an Dresden so interessiert hat, war ja auch das rein bildlich Erfahrbare, so viele erkennbar verschiedene Epochen, die vom Leuchten bis zum Dröhnen. Ich habe das so nirgendwo anders gesehen. Und diese Palette hoffe ich, ist auch in jeder einzelnen Figur und kann aber auch nur wie in jedem feineren Mosaik eine Farbe sein. Das komplette Bild davon entsteht erst in einer gewissen Distanz.

    Karsten Witte: Der Name Finkenzeller für deine Protagonistin Katharina ist ein Signal. Es gibt die beliebte deutsche Filmschauspielerin der vierziger Jahre, Heli Finkenzeller, die ungefähr so alt wurde wie Deine Dresdner Schauspielerin und im Alter von 81 Jahren 1991 gestorben ist, im Mustergatten mitgespielt hat, oder im Film „Mein Sohn, der Herr Minister“, aber auch in dem Widerstandsfilm „Es geschah am zwanzigsten Juli“. Ist das ein Angebot an Senioren?

    Ula Stöckl: Es besteht darin, sich zu erinnern, dass auch die Alten solche wunderschönen, lebendigen, hoffnungsfrohen jungen Menschen waren, die in einem ganz bestimmten Abschnitt ihres Lebens genau so enthusiastisch das Neue wollten, ohne wissen zu können, was in der Folge daraus entstehen wird. Aber auch, dass sie den Enkeln gegenüber eine Verpflichtung haben. Es liegt in ihrer Verantwortung, wenn sie heute entweder immer noch über ihren Anteil an der Vergangenheit schweigen, oder ihre Wahrheit in einen Augenblick offenbaren, der aus ihrer Wahrheit nur ein weiteres Stück Spielgeld macht.

    Karsten Witte: Das passiert am sogenannten Heiligen Abend, der bei uns ein entschlossener Rückzug aus der Gesellschaft in die Häuslichkeit ist. Ich habe drei Zeilen aus Goethes Faust gefunden, wo Bürger sich vor dem Oster-Spaziergang treffen. Diese Zeilen scheinen mir zu passen auf die Situation deutscher Rituale, von der wir gerade reden: „Sie mögen sich die Köpfe spalten, mag alles durcheinander gehn, doch nur zu Hause bleibts beim Alten“. Diese schroffe Trennung von drinnen und draußen, von privat und öffentlich wird hier noch mal betont. „Die Köpfe spalten“, das wiese auch auf den inneren Bürgerkrieg, und zuhause bleibts beim Alten. Dies ist der Hauptwiderspruch, den Dein Film benennt, dass inmitten der Veränderung Veränderungen dialektisch ja auch nur kommen können, wenn nicht alles verworfen wird, sondern wenn das Schiff zwischen Dresden und Hamburg auch zurückfährt und wieder hin und wieder zurückfährt.

    Ula Stöckl: Das sind sehr viele verschiedene Ebenen. Um sich hier noch durchzufinden, hangelt man sich gerne am Traditionellen entlang, an Bräuchen, Zeremonien und Ritualen zum Beispiel. Im Film versuche ich, dieses Gleichzeitige sichtbar zu machen. Alexander Kluge hat zum Beispiel immer gesagt: man kann, wenn man einen neuen Film machen will, nicht alles gleichzeitig verändern. Man kann nicht einen neuen Inhalt UND eine neue Form bringen. Man muss versuchen, für alte Inhalte neue Bilder zu finden.

    Karsten Witte: Gehört deine Heldin nach Dresden? Ist sie da legitim zu Hause oder ist sie da definitiv entfremdet? Gehört ihr das Haus oder gehören ihr nur Erinnerungen? Und mit wem teilt sie? Sie macht sich ein Haus aus illusorischen Erinnerungen. Das Haus bricht zusammen wie ein Kartenspiel. Was würde denn eigentlich passieren, wäre der Alte, die Jugendliebe, der ein erfolgreicher Arzt geworden ist, der an den Sozialismus geglaubt hat, dem auch diese Gesellschaftsvision von der besseren Gesellschaft zusammenbricht, in den Westen gereist? Kannst du dir vorstellen, dessen Erinnerungen, Gedanken auf der Dampferfahrt nach Hamburg zu beschreiben? Was würde den in Hamburg erwarten?

    Ula Stöckl: Er würde erleben, stelle ich mir vor, was viele deutsche Amerikabesucher erlebt haben, als sie irgendwann ihre längst ausgewanderten Verwandten in Amerika besucht haben. Sie würden festgestellt haben, die sprechen zwar noch deutsch, aber dieses Deutsch ist mit vielen Amerikanismen vermischt. Sie haben andere Küchengeräte und eigentlich haben sie bewahrt Weihnachten und Ostern und Geburtstag. Wieder die Mythen. Und meinen, sie würden die Tradition weitergeführt haben, die sie ja mitnehmen wollten, und sie sind doch eine andere Kultur geworden. Das würde ihn erwarten. Während Katharina, die zurückkommt, sich ganz unreflektiert erwartet, dass es genau dort weitergeht, wo sie vor vierzig oder mehr Jahren, das Land verlassen hat. Und vieles gibt ihr erst mal Recht. Wenn man als Westler zum ersten Mal in eine solche ostdeutsche Stadt kommt, ist man sehr berührt von der Reise zurück in die Vergangenheit, in die Zeit, die man macht, denn plötzlich erinnert man Dinge, die man lange vergessen hat. Mir geht es nicht nur um Konstrukte. Ich denke, jeder Mensch, egal wie toll er ist, macht Fehler. Es sind manchmal Fehler, die haben mehr Konsequenzen für ihn selber oder für seine Mitmenschen, als andere und trotzdem ist es sehr wichtig, dass Menschen einfach menschlich gezeigt werden. Es ist für mich auch ein Überbleibsel aus barbarischen Zeiten, egal wie lange oder wie kurz die jetzt zurückliegen, dass man meint, gerecht urteilen zu können über Menschen, die in Zeiten gelebt haben, in denen das Unrecht selbst zum Recht erklärt worden ist, weil es im Augenblick die Politik war. Ilse ist im Gegensatz zu Katharina eine Person, in der das ganz persönliche Unrechts- und Rechtsempfinden nicht ausgelöscht werden konnte, während Katharina eine ist, die sehr viel autoritätshöriger und subalterner das für Recht erkennt, was ihr die jeweilige Zeit als Recht vorschreibt.

    Karsten Witte: Wärst du denn einverstanden, man würde die letzte Strophe des Deutschlandliedes nicht nur skeptisch zersingen, sondern noch anders fassen? Nämlich nicht „Einigkeit und Recht und Freiheit“, sondern Recht und Freiheit, und dann Einigkeit?

    Ula Stöckl: Dann halte ich das alte Lied für singbar und dann halte ich es auch für eine realistische Utopie.

    TEXTE ZUM FILM

    Vorfilm "Rede nur niemand von Schicksal"

    Als die Mauer aufging, Währungsunion und Einigungsvertrag zustande gekommen waren, hielt es die Schauspielerin Grischa Huber für an der Zeit, etwas zum Trost der Deutschen zu tun, das sie, wie Hölderlin, als ein sehr zerrissenes Volk empfand. Immer schon eine Liebhaberin von J.C.F. Hölderlin, traf sie eine Auswahl unter ihren Lieblingstexten im Roman Hyperion. Diese Texte richtete sie im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses, zu dessen Ensemble sie bis 1991 gehörte, szenisch ein. Eine Stunde dauerte ihr Abend. Überrascht von der sehr positiven Resonanz sowohl der Hamburger Kritik als auch ihres zum Teil sehr jungen Publikums, wiederholte sie den Hölderlin-Abend noch mehrere Male. Als ich einen dieser Abende miterlebt hatte, stand für mich fest, dass ich eine Verbindung schaffen musste zwischen der Sängerin Ilse in meinem Film „Das alte Lied ...“ und diesem Abend der Schauspielerin Grischa Huber, die seit langem einverstanden war, für den Film „Das alte Lied ...“ das Lied der Ilse zu singen, das Deutschlandlied neu zu interpretieren und die rätselhafte schöne Frau zu spielen, die vielleicht Ilse ist.
    Grischa Huber und ich waren uns aber auch einig darüber, dass Teile aus ihrem Abend nicht einfach in den Film „Das alte Lied ...“ zu übertragen sind. Wir fanden die Lösung. Ein Prolog war denkbar. Nun wählte ich neun Textstellen aus den Texten aus, für die Grischa Huber sich entschieden hatte. Wir inszenierten diese Texte in die Landschaft des Todesstreifens, in den Platz, auf dem die abgerissene Mauer zu Schotter verarbeitet wird. Es entstand ein eigenständiger Kurzfilm. Dieser gehört in der vorliegenden Form unverzichtbar vor „Das alte Lied ...“ Ula Stöckl

    Mit Texten aus „Hyperion“ von Hölderlin:
    Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlassnen einer sagte, dass bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den plumpen Händen, dass bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur nicht achten, dass bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und den Häusern bringt. Und darum fürchten sie den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebenswillen, alle Schmach, weil Höhers sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt.
    Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich’s, weil es Wahrheit ist:
    ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen.
    Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen- ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt?
    Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müssten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlassnen Unnatur auf solchem Volke.
    Ich möcht ein freier Land, ein Land voll Schönheit und voll Seele dir zeigen und sagen: dahin rette dich!
    Ach! es kann ja nicht einmal ein schöner Traum gedeihen unter dem Fluche, der über uns lastet. Wie ein heulender Nordwind, fährt die Gegenwart über die Blüten unsers Geistes und versengt sie im Entstehen.
    Es ist aus! unsre Leute haben geplündert, gemordet, ohne Unterschied, auch unsre Brüder sind erschlagen.
    Ihre tote Jammermiene ruft Himmel und Erde zur Rache gegen die Barbaren, an deren Spitze ich war.
    In der Tat! es war ein außerordentlich Projekt, durch eine Räuberbande mein Elysium zu pflanzen.
    Wir sind zerfallen mit der Natur.
    Oft ist uns, als wäre die Welt alles und wir nichts, oft aber auch, als wären wir alles und die Welt nichts. Auch Hyperion teilte sich unter diese beiden Extreme.
    Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all unsres Strebens, wir mögen uns darüber verstehen oder nicht.
    ‘’Du wirst einsam sein, mein Liebling!’’ sagte mir damals Adamas auch, ‘’du wirst sein wie der Kranich, den seine Brüder zurückließen in rauer Jahreszeit, indes sie den Frühling suchen im fernen Lande.’’
    Und das ist’s Lieber! Das macht uns arm bei allem Reichtum, dass wir nicht allein sein können, dass die Liebe in uns, so lange wir leben, nicht erstirbt.
    Aber sage nur niemand, dass uns das Schicksal trenne! Wir sind’s wir! wir haben unsre Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die kalte Fremde irgendeiner andern Welt zu stürzen, und, wär es möglich, wir verließen der Sonne Gebiet und stürmten über des Irrsterns Grenzen hinaus. Ach! für des Menschen wilde Brust ist keine Heimat „Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen.
    Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen...“


    Darstellerin Grischa Huber

    Ton Hartmut Haase
    Kamera Julia Kunert und Lily Grote
    Schnitt Monika Schindler
    Gesamtltg. Clara Burckner
    Regie Ula Stöckl
    Produktion Basis-Film Verleih GmbH
    und Ula Stöckl

    BRD 1991, Kurzfilm, 9 Minuten
    Prädikat: wertvoll