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  • Blockade - Leningrad 1941-1944

    BRD 1991, s/w und Farbe, 16mm und DVD, 93 Min


    STAB

    Buch und Regie
    Kamera
    Schnitt
    Musik
    Ton
    Beratung
    Archivrecherche
    Aufnahmeleitung
    Herstellung
    Produktion
    Thomas Kufus
    Johann Feindt
    Christoph Janetzko
    Arpad Bondy
    Alexander Grusdew
    Gennadi Kagan
    Marina Nikiforowa
    Alla Ponomariowa
    Martin Hagemann
    zero film Berlin in Zusammenarbeit mit Studio Lendoc Leningrad

    BIOGRAFIE



    1957
    seit 1987
    1990
    seit 1993
    seit 1998
    seit 2000

    geboren in Essen
    Regie von Dokumentarfilmen u.a. "Mein Krieg" (90 min/1988), "Blockade" (90 min/1990)
    Gründung zero film zusammen mit Martin Hagemann
    Produktion von Kinospiel- und Kinodokumentarfilmen
    Entwicklung, Regie und Produktion von Doku-Serien für TV
    div. Lehrtätigkeiten an Filmhochschulen zur Produktioin des Dokumentarfilms



    Prädikat: wertvoll

    INTERVIEW

    Interview mit Thomas Kufus

    Was hat dich bewogen, heute, 1991, einen Film über die Blockade von Leningrad zu machen?
    Mein letzter Film (MEIN KRIEG) hat sich ausschließlich mit Aussagen deutscher Wehrmachtsoldaten über den Krieg gegen die Sowjetunion beschäftigt. Angesichts der Dokumentaraufnahmen habe ich mich oft gefragt, wie denken die Menschen der Sowjetunion über diesen Krieg?
    Danach hatte ich die Möglichkeit, ein Filmprojekt nach Leningrad zu begleiten und habe da festgestellt, dass viele Menschen dort über ein Thema sprachen, das mir - nur in ganz groben Zügen bekannt war: dass die Stadt eines der schrecklichsten Kriegsverbrechen überstanden hat, dass es in Leningrad fast keine Familie gibt, in der nicht Opfer zu beklagen waren. Die Leningrader wunderten sich, dass wir so wenig darüber wussten, und sie hatten großes Interesse, davon zu erzählen.
    Es gibt eine Reihe von sowjetischen Dokumentarfilmen über die Blockade. Was unterscheidet deinen Film davon?
    Mit Ausnahme der beiden jüngsten ist der Tenor dieser Filme Kriegspropaganda, sie sind zum Teil noch während des Krieges entstanden und veröffentlicht worden. Vor allem ist mir aufgefallen, dass in diesen Filmen eine rein militärischer Aspekt vorherrscht, aber in keinem einzigen gibt es persönliche Aussagen von ganz normalen Bürgern der Stadt, die ich ja gehört hatte. Und das hat mich interessiert.

    BLOCKADE zeigt viele Aufnahmen aus dem heutigen St. Petersburg, ohne dass diese Bilder in einen direkten Vergleich zu den historischen Aufnahmen gesetzt sind. Warum hat der Film diese zusätzliche Ebene?
    Als ich 1989 zum ersten Mal in Leningrad war, hat mich das Erscheinungsbild der Stadt
    sehr beeindruckt, die großzügigen, ja fast
    gigantischen Ausmaße der Plätze und Straßenzüge. Gleichzeitig kannte ich die Vernichtungspläne Hitlers, der die Stadt nie gesehen hatte. Ich habe mich dann entschieden, anhand dieser aktuellen Bildebene auch zu zeigen, wie monströs diese Befehle Hitlers damals wie heute wirken mussten. Dazu kamen Anmerkungen von meinen Interview- und Gesprächspartnern, die mit bitterer Ironie den heutigen Anblick der Stadt mit dem während der Blockade verglichen haben. „Du hast heute fast einen authentischen Drehort,“ das kam immer wieder von verschiedenen Leuten.

    Wie bist du auf die historischen Aufnahmen gestoßen, und nach welchen Kriterien hast du sie ausgesucht?
    Ich bin in die russischen Archive gegangen und habe nach Material gefragt, und da wurden mir die schon erwähnten Filme über die Blockade gezeigt: „Das ist unser Archivmaterial.“ So ist man in der Sowjetunion mit historischen Aufnahmen für Dokumentarfilme umgegangen, immer wieder dieselben Versatzstücke. Aber das hat mich nicht interessiert. Also habe ich mir überlegt, dass man die alten Kameraleute, die diese Aufnahmen gemacht haben, fragen könnte. Und ich habe noch zwei gefunden, die wussten, dass sie erheblich mehr Material gedreht hatten, als in diesen Filmen vorkam, eben Bilder von der Bevölkerung, Leute die anstehen, die nichts mehr finden, Leichen in den Straßen. Aber wo diese Aufnahmen jetzt waren, darüber hatten sie nur Vermutungen. Später haben wir dann im staatlichen russischen Archiv in Krasnogorsk gewühlt und nach 2 oder 3 Wochen hat meine Mitarbeiterin Marina Nikiforowa 20
    Rollen 35mm-Film gefunden, die bis dahin noch nie geöffnet worden waren. Von diesen Rollen stammen 70 bis 80 Prozent der historischen Aufnahmen, die in BLOCKADE zu sehen sind.
    Ich habe eigentlich das Konzept des Films davon abhängig gemacht, welches Archivmaterial ich finde. Das war die Basis, danach haben wir die heutigen Aufnahmen gedreht und zum Teil auch die Interviewpartner ausgesucht.

    BLOCKADE ist nicht chronologisch aufgebaut. Es gibt einen historischen Block und einen Interviewblock und das Ende steht am Anfang: in einer historischen Aufnahme sieht man deutsche Wehrmachtsoldaten, die unter dem Beifall der Leningrader Bevölkerung gehängt werden. Warum dieser Aufbau mit einem Schock zu Beginn?
    Die öffentliche Hinrichtung ist eine der wichtigsten Szenen aus dem Film, auch deswegen, weil sie eine Geschichte hat. Eine geheimnisumwitterte Szene: sie war nirgends zu finden, niemand wollte darüber sprechen. Sie war im Archivkatalog versteckt, wahrscheinlich bewusst versteckt unter einem Stichwort wie „Landschaft in Weißrussland“. Sie war ganz sicher zensiert, dass Negativ existiert nicht mehr, aber die Zensoren haben das einzige Positiv übersehen.
    Für mich war klar, dass ich diese Szene an exponierter Stelle einsetzen muss, also am Anfang oder am Ende. Aber wenn man als Deutscher einen Film über Kriegsverbrechen macht, führt es zu Missverständnissen, diese Szene ans Ende zu setzen. Die Szene fand nach dem Krieg statt und steht nicht in direktem Zusammenhang mit der Blockade. Wenn ich diese Szene an den Anfang stelle, dann zeigt sie, wie drastisch Menschen in Kriegszeiten reagieren. Aber wenn sie am Schluss steht, entstehen revanchistische Konnotationen, und die wollte ich absolut ausschließen.
    Zum weiteren Aufbau: Ich wollte den Bewohnern Leningrads in diesem Film sehr viel Raum lassen. Also habe ich mich entschlossen, alles was an Information notwendig ist, am Anfang zu liefern, um am Ende dann offener zu sein für die Montage aus dem Archivmaterial und den Aussagen der Protagonisten.

    Wie hast du deine Interviewpartner ausgesucht?
    Insgesamt hat die Recherche zu dem Film fast ein Jahr gedauert. Parallel zur Suche nach Archivmaterial habe ich sicher mit 30 oder 40 verschiedenen Personen gesprochen, mit Hilfe meines Beraters und Übersetzers Gennadi Kagan. Je näher die Dreharbeiten kamen, desto klarer wurde, welche inhaltlichen Aspekte ich für den Film brauche, und danach habe ich die sechs Interviewpartner ausgesucht. Das mussten Leute sein, die konkrete Aussagen über die Situation in der Stadt machen konnten. Entscheidend war der Blickwinkel der Frauen, denn das waren die, die in der Stadt bleiben mussten. Wichtig war auch Admoni, der Literaturwissenschaftler. Er war während der Blockade schon über 30, also mehr als 10 Jahre älter als die anderen Interviewpartner, gehörte zur Intelligenzia und hatte einen größeren Überblick über die Lage in der Stadt.

    Wie bist du bei den Interviews vorgegangen?
    Natürlich gab es längeren Kontakt zu meinen Gesprächspartnern, aber ich glaube, man sieht, dass sie erst im Erzählen vor der Kamera zu bestimmten Geschichten vorstoßen und dabei auch an ihre Grenzen kommen. Es kam auch vor, dass sie erschrocken waren über das, was sie jetzt so stark wieder erinnerten.

    Wie gehst du damit um, wenn die Interviewpartner ihre Fassung verlieren, z. B. anfangen zu weinen?
    Das passierte in zwei Gesprächen. Johann Feindt, der Kameramann, und ich entschieden in der jeweiligen Situation, wie wir uns verhalten. Manchmal kann es wichtig sein, weiter zu drehen, die Gesprächspartner spüren das, wollen dann auch unbedingt weitermachen und fangen sich wieder. Aber wenn sie wirklich die Fassung verlieren, schalten wir die Kamera erst einmal aus; wir merken, wenn sie uns einen Wink geben und nicht mehr möchten.

    TEXTE ZUM FILM

    „Armut, Hunger und Genügsamkeit erträgt der russische Mensch schon seit Jahrhunderten. Sein Magen ist dehnbar, daher kein falsches Mitleid.“ (Herbert Backe, Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung, 1941)


    Kurzbiographie der Protagonisten
    (in der Reihenfolge ihres Auftretens)


    Vladimir Admoni, geb. 1909 in St. Petersburg Literaturwissenschaftler und Germanist; schrieb während der Blockade Propaganda-Gedichte in deutscher Sprache, die von der Roten Armee über der deutschen Front abgeworfen wurden; Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Professor an der Universität Leningrad, diverse Buchveröffentlichungen in deutscher Sprache.

    Riva Gurjewitsch, geb. 1922
    Rentnerin; hat während der Blockade die Tochter Swetlana zur Welt gebracht; Swetlana war eines von nur sieben Neugeborenen, die während der 900 Tage in Leningrad überleben konnten.

    Juli Galperin, geb. 1920
    war Soldat an der Leningrad-Front (Aufklärung); später Bildkorrespondent der TASS, Leningrader Abteilung; besitzt umfangreiche private Fotosammlung über die Blockade.

    Tatjana Illesch, geb. 1923 in Riga
    aufgewachsen in Lettland, deutsche Mutter; kam während des Krieges nach Leningrad, weil sich ihr Mann dort beim Militär melden musste; ihr Mann fiel nach wenigen Tagen an der Front, sie war in der Stadt eingeschlossen und nicht registriert (ohne Lebensmittelkarten); nach Evakuierung 1942 Dolmetscherin in Gefangenenlagern; nach dem Krieg Journalistin; lebt heute als Rentnerin in Moskau.

    Michail Bubrow, geb. 1925
    als 16-jähriger bei der Verteidigung in der Leningrader Gebirgsdivision eingesetzt mit der Aufgabe, die weit sichtbaren, goldenen Turmspitzen der Stadt zu tarnen; aktiver Sportler (Mehrkampf); heute Deputierter im Stadtparlament von St. Petersburg.
    Valentina Malachiewa, geb. 1923
    während der Blockade Studentin an der Akademie für Tanz und Malerei; später Bühnen- und Maskenbildnerin an vielen Theatern und in Filmstudios; zahlreiche Ausstellungen; Mitbegründerin der Initiative zur Rettung des Stadtbilds von St. Petersburg.


    Tagebuch-Aufzeichnungen aus Leningrad aus den Jahren 1941 und 1942

    14. 7. 41
    Ich stellte die Teekanne auf den elektrischen Herd und kochte Wasser. Dann machte ich mir Tee im Speisezimmer, saß am offenen Fenster, trank süßen Tee mit Gebäck, wunderschön. Und kaufte noch einen Liter Milch.

    Als wir aus Wyriza in die Stadt zurückkehrten, gab es in Leningrad schon Lebensmittelkarten. Die Läden leerten sich allmählich. Auch die Lebensmittel, die auf Karten verkauft wurden, verschwanden mit der Zeit: zuerst die Konserven und teuren Produkte. Brot allerdings konnte man in der ersten Zeit kaufen, wenn man Karten hatte.

    25. 7. 41
    Es wurde befohlen, während des Luftalarms die Fenster zu schließen. Es ist sehr unangenehm, in einem schwülen Zimmer zu sitzen. Später stellte sich heraus, dass man im Gegenteil die Fenster während des Alarms offen halten muss. Also kam der Befehl, die Fenster aufzumachen. Aber zu dieser Zeit war es bereits kalt. (...) In den Sparkassen bekommt man nicht mehr als 200 Rubel pro Monat. Die Bevölkerung wird einberufen, um Schützengräben auszuheben. Dafür nimmt man verschiedene Leute: Schüler, Angestellte, Hausfrauen,
    Frauen bis 50, Männer bis 60.

    Einmal gingen wir den Kamennoostrowski-Prospekt entlang. Es war Abend, und über der Stadt schwebte eine wunderschöne Wolke. Sie war ganz weiß und sah aus wie Schlagsahne. Sie wuchs und wuchs und die Abendsonne färbte sie rosa. Am Ende nahm sie bedrohliche Ausmaße an. Später erfuhren wir, dass die Deutschen bei einem ihrer ersten Luftangriffe die Badajewer Lebensmittellager vernichtet hatten. Die Wolke war also aus dem Rauch brennenden Öls entstanden. In erster Linie zerstörten die Deutschen die Lebensmittellager.

    12. 10. 41
    Heute waren wir im Aurora-Kino am Newski-Prospekt. Wir haben ein Filmlustspiel gesehen: „Korsinskis Abenteuer“. Der Konzertsaal ist geschlossen , die Räume sind beschädigt, und von der Statue in der Nische sind nur die Füße übrig. Dieser Tage haben Salows eine
    Postkarte von Mischka bekommen. Sie fragt, warum wir nicht schreiben. Ob wir in Leningrad seien. Dass niemand von den Leningradern ihre Briefe beantwortet. Das heißt, die Briefe, darunter auch unsere, kommen nicht an. Mara sagt, die Ausgrabungen an ihrem zerstörten Haus werden fortgesetzt, obwohl schon 34 Tage seit dem Angriff vergangen sind. Man hat ein Stück des Kleides von Verotschka gefunden.

    Eine Bombe hatte die Ecke des Gebäudes weggerissen, wo früher mal das kleine Restaurant war, in dem Alexander Blok immer saß. Die Bombe hatte den Luftschutzkeller zugeschüttet und die Wasserleitung zerstört. Die Menschen, die im Keller saßen, waren alle ertrunken. Nach diesem Ereignis beschlossen wir ein für allemal, nie in unseren Luftschutzkeller zu gehen. Erstens war das sinnlos, und zweitens kostete uns das Treppensteigen von der vierten Etage hinunter und wieder rauf sehr viel Kraft.

    4. 10. 41
    Es stellte sich heraus, dass Serjoscha doch in den Putliow-Werken verwundet worden war. Wir gingen selbstverständlich sofort zu den Salows. Da stand Serjoscha und stützte sich auf einen Stuhl, sehr mager, dunkel, Hose und Jacke an mehreren Stellen von Splittern durchlöchert. Zum Glück ist er so mager, dass die Splitter an mehreren Stellen durch die Kleider pfiffen. Sie trafen Serjoschas Körper nicht. Aber ein Splitter hat ihn doch verwundet.

    Im Winter machten uns die Brände zu schaffen. Die Häuser brannten wochenlang. Es war nichts da, womit man sie hätte löschen können. Die geschwächten Menschen waren nicht in der Lage, auf ihre „Burschuika“ (Kanonenofen, A.d.Ü.) zu achten. In jeder Wohnung gab es Schwache, die sich nicht fortbewegen konnten, sie verbrannten bei lebendigem Leib.
    20. 10. 41
    Der Tag und die Nacht vergingen sehr ruhig. Man hörte nur Schüsse. Das Wetter war nicht sehr gut: 1,2 Grad Frost. (...) Heute tranken wir das erste Mal nur Tee mit Schwarzbrot. Meinen Gürtel, den ich schon mal enger gemacht habe, muss ich noch fester schnallen. Probleme mit der schlanken Linie habe ich nicht mehr. Um fünf Uhr nachmittags gab es ein Bombardement, aber nicht lange. Eine Bombe explodierte ziemlich weit von unserem Haus. Klawa kaufte ein Kilo Butter für 150 Rubel.

    Später, im Winter, sind alle Mäuse verhungert. In der Morgenstille, wenn wir noch in unseren Betten lagen, hörten wir, wie eine sterbende Maus am Fenster verzweifelt hin und her rannte und dann verreckte: kein einziges Krümchen fand sie in unserem Zimmer.

    11. 11. 41
    Bis heute konnte man in der Speisehalle des Technikums Suppe für Geld bekommen. Die Suppen sind sehr schlecht. Heißes Wasser mit einigen Körnchen Graupen oder ein paar Stückchen Makkaroni oder irgendwelchen grünen Blättern. Kurz gesagt, nahrhaft ist diese Suppe überhaupt nicht. Und trotzdem, wenn man stundenlang im kalten Keller, in der kalten Klasse gesessen hat, dann ist es sogar angenehm, so eine Suppe zu essen.

    Die Kälte erfüllte uns inwendig, sie drang durch Mark und Bein. Der Körper erzeugte kaum Wärme. Die Kälte war schlimmer als der Hunger. Sie machte die Leute gereizt. Als ob dich jemand von innen abkitzelt. Dieses Kitzelgefühl erfasste den ganzen Körper und zwang einen, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen. Die Gedanken kreisen nur ums Essen.

    Auf dem großen Prospekt neben der Gatschinskaja wurde ein Brotladen ausgeraubt. Wie sie das nur geschafft haben? Jede beliebige Verkäuferin (sie hatten noch soviel Kraft) wäre mit einer Gruppe ausgemergelter Leute fertig geworden. Die Staatsmacht füllte ihre Leute in der Stadt auf: ausgemergelte Milizionäre wurden durch neue gesunde ersetzt, die auf der „Straße des Todes“ nach Leningrad gebracht wurden.

    4. 12. 41
    Es heißt, dass man über den Ladogasee etwa 33 Kilometer zu Fuß gehen muss und danach auf dem Festland 218 km. Unterwegs, so heißt es, werde man ernährt. Jeder darf ein Paket von 33 Kilo mitnehmen. Einige unserer Studenten wollen evakuiert werden. Wenn eine Institution evakuiert wird, so geschieht das unter wesentlich günstigeren Bedingungen, d.h. mit LKWs. Jetzt wird die Medizinische Hochschule evakuiert, das Arktische Institut ist auch an der Reihe.

    Alle Ethnographen starben. Auch von den Bibliothekaren blieb kaum jemand übrig, viele Mathematiker starben - junge, talentierte. Doch die Zoologen blieben am Leben: sie verstanden zu jagen.

    13. 12. 41
    Bei uns im Hof gab es viele Tauben. Jetzt gibt es keine mehr, auch keine Katzen. Auch unsere Katze Schurka ist verschwunden. Fast jeden Sonntag gibt es in der Philharmonie Konzerte. Um das Publikum anzulocken, werden ausschließlich Werke von Tschaikowski gebracht. (...)

    9. 12. 41
    Heute wurden die elektrischen Leitungen durchtrennt, und man sagt, dass es für Wohnräume überhaupt keine Beleuchtung mehr geben wird. Wasser bekommt man nur noch bis zur zweiten Etage. Für neue Stiefel mit Ledersohle bekommt man heute 3,5 Kilo Leimkuchen. Leimkuchen werden gern
    gegessen. Der Straßenbahnverkehr funktioniert nicht. Ich muss zur Arbeit und zurück zu Fuß gehen.

    25. 12. 41
    In der letzten Zeit fielen sehr viele Bomben auf die Stadt. Manche Leute kochen Suppe aus Tischlerleim. Dem Leim fügt man Lorbeerblätter oder andere Kräuter hinzu. Tischlerleim kann man nicht kaufen, und wenn, gibt es sehr lange Schlangen. Gestern aß Kolja Sülze aus dem Hund Nona. Er musste viel Senf und Essig hinzutun. Aber es schmeckte nicht gut. Der bloße Gedanke, dass man einen Hund isst, war sehr unangenehm. Heute reden alle nur vom Essen und wo man was zu essen kriegen könnte.

    Hier entstand der typische Leningrader Diebstahl. Die Jungs, die am meisten unter dem Hunger litten (sie wuchsen und brauchten mehr als andere) warfen sich förmlich auf das Brot. Sie rannten mit ihrer Beute nicht mal weg, sie wollten nur so viel wie möglich verschlingen, bevor man es ihnen wieder wegnahm. In Erwartung von Prügeln schlugen sie ihre Mantelkragen hoch, legten sich auf das Brot und aßen, so schnell sie konnten.

    Die Gesichter der einen waren aufgedunsen, mit einer bläulichen Flüssigkeit angefüllt, bleich, die Gesichter anderer wiederum waren schrecklich abgemagert und dunkel. Und die Kleidung erst! Die Menschen quälte weniger der Hunger als vielmehr die Kälte. (...) Deswegen hüllte man sich in alles ein, was einem unter die Finger kam. Die Frauen trugen die Hosen ihrer verstorbenen Männer, Söhne und Brüder (die Männer starben zuerst) und wickelten sich in Tücher ein. Die Muskeln, die nicht oder kaum benutzt wurden, starben zuerst ab. Die Beine versagten zuletzt ihren Dienst. Doch wenn ein Mensch für längere Zeit liegen blieb, stand er nicht mehr auf.

    27. 1. 42
    Auf den Straßen sieht man viele Leichen, auf den Schlitten und einfach am Straßenrand. Ohne Särge. Andere sind einfach in irgend etwas eingewickelt, nur die Füße ragen heraus. Einmal begegnete mir ein LKW, vollgestopft mit Leichen. Es ist nicht zu glauben, dass es Menschen sind, man denkt, es sind Modellpuppen, die man so unordentlich gestapelt hat. Man kann nicht einmal sagen, dass die Leichen aufgetürmt sind wie Holz, das doch in einer bestimmten Ordnung geschichtet wird.

    Die Körper der Gestorbenen verwesten lange nicht, sie waren so ausgetrocknet, dass sie eine ganze Weile liegen bleiben konnten. Die Familien der Toten begruben ihre Verwandten nicht, weil sie ihre Karten bekamen. Vor den Leichen hatte keiner Angst, Verwandte wurden nicht beweint, denn keiner hatte Tränen.

    5. 1. 42
    Seit dem 1. Januar bekommt niemand mehr Zeitungen. Das Radio schweigt, und deswegen wissen wir nichts vom Gang des Krieges, außer zufälligen Neuigkeiten. Unsere Truppen sind schon in Malojaroslawez. Die Deutschen setzen ihren Angriff auf Leningrad fort. Heute ist die Stadt vollkommen gelähmt. Busse, Trolleybusse, Straßenbahnen fahren schon lange nicht mehr. Die Beleuchtung, die Wasserleitung, nichts funktioniert mehr. In verschiedenen Institutionen flimmert nur ein kleines Licht. Die Kinos sind geschlossen. Und an den Friseursalons und Kinos hängt eine Bekanntmachung: „Geschlossen, keine Elektrizität“. Durch die Stadt gehen alle mit Eimern und suchen Wasser. Bereits der dritte Tag, an dem es kein Brot gibt. Man sagt, wegen Wassermangel.

    Das menschliche Hirn starb zuletzt. Wenn Arme und Beine schon längst den Dienst versagt hatten, wenn die Finger den Mantel nicht mehr zuknöpfen konnten, wenn der Mensch keine Kraft mehr hatte, um den Mund zu schließen, die Haut dunkel wurde, wenn das Gesicht wie ein Totenschädel mit grinsenden Zähnen aussah - dann arbeitete das Gehirn weiter.


    normal gesetzt:
    aus: Blockade-Tagebuch von Georgi Zim. Zim begann seine Aufzeichnungen am 13. 7. 41, die letzte Eintragung stammt vom 10. 2. 42. Er starb nach der Evakuierung über den Ladogasee an den Folgen des Hungers. Das Tagebuch wurde bei der Recherche zum Film entdeckt und wurde erstmals 1992 in Deutschland veröffentlicht. (Übersetzung: Gennadi Kagan)

    kursiv gesetzt:
    aus: „Wie wir am Leben blieben“ von Dimitri Lichatschow. Der Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker schrieb diesen Text zusammen mit seiner Frau 1957 als Erinnerung für seine Töchter, die die Blockade als Kinder erlebten. „Wie wir am Leben blieben“ wurde 1991 erstmals in der Sowjetunion veröffentlicht.

    (In Auszügen zitiert nach: „Blockade, Leningrad 1941-1944. Dokumente und Essays von Russen und Deutschen.“ Hrsg.: Antje Leetz und Barbara Wenner, Rowohlt Verlag, Reinbeck 1992.)


    Aus dem Kriegstagebuch der Heeresgruppe Nord 24.10.1941 07.00 Uhr

    (Aktennotiz über die Fahrt des 1. Generalstabsoffiziers in den Bereich der 18. Armee)

    Bei allen aufgesuchten Stellen wurde die Frage aufgeworfen, wie man sich zu verhalten hat, wenn die Stadt Leningrad ihre Übergabe anbietet, und wie man sich gegenüber der aus der Stadt herausströmenden hungernden Bevölkerung verhalten soll. (...) In der Truppe besteht volles Verständnis dafür, dass die Millionen Menschen, die in Leningrad eingeschlossen seien, von uns nicht ernährt werden können, ohne dass sich dies auf die Ernährung im eigenen Land nachteilig auswirkt. Aus diesem Grunde würde der deutsche Soldat auch mit Anwendung der Waffe derartige Ausbrüche verhindern.




    Auszug aus der Ereignismeldung UDSSR Nr. 170, Informationen zur Lage in der Stadt durch Spionage

    Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD
    VA1 - B.Nr.1 B/41
    Berlin, den 18. Februar 1942
    Geheime Reichssache!

    Ein Überläufer machte sich Ende Januar die Mühe, an einer verkehrsreichen Straße in Leningrad am Nachmittag die vorüber geführten Handschlitten mit Leichen zu zählen und kam im Verlauf einer Stunde auf die Zahl von 100. Vielfach werden Leichen auch schon in Höfen oder auf freien Plätzen gestapelt. Ein im Hof eines zerstörten Wohnblocks angelegter Leichenstapel war etwa 2 m hoch und 20 m lang. Vielfach werden die Leichen aber gar nicht erst aus den Wohnungen abtransportiert, sondern bloß in ungeheizte Räume gestellt. In den Luftschutzräumen findet man häufig Tote, für deren Abtransport nichts geschieht. Auch beispielsweise im Alexanderowskaja-Krankenhaus sind in ungeheizten Räumen, Gängen und im Hofe 1.200 Leichen abgestellt.



    CHRONOLOGIE

    1941
    Juni/August 1941
    22.6.41 Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion.

    20.8.41 Die Bahnlinie zwischen Moskau und Leningrad wird von den Deutschen bei Tschudowo unterbrochen.

    29.8.41 Die deutsche Heeresleitung gibt den „Heeresgruppenbefehl für die Einschließung der Stadt Leningrad“ heraus.

    30.8.41 Der Eisenbahnknotenpunkt Mga wird von den Deutschen eingenommen, damit ist die letzte Bahnverbindung zwischen Leningrad und dem Hinterland unterbrochen.

    September 1941
    In der deutschen Heeresleitung werden verschiedene Strategien zur Zerstörung Leningrads und zur Vernichtung der Bewohner diskutiert.
    2.9.41 Kürzung der Brotration in Leningrad auf 600g für Arbeiter, 300g für Angehörige und Kinder. Im September sind die Läden leer, die Lebensmittelknappheit macht sich bemerkbar.
    8.9.41 Schlüsselburg wird von den Deutschen eingenommen, Leningrad ist damit vom Hinterland abgetrennt und vollständig eingeschlossen.

    8.-10.9.41 Bei schweren Luftangriffen werden die Badajewlagerhäuser getroffen, riesige Lebensmittelvorräte verbrennen.


    Oktober 1941
    Extrem früher Wintereinbruch. Elektrisches Licht gibt es nur noch in Militär-, Partei- und Verwaltungsbüros, Strom wird knapper. Die Bevölkerung Leningrads hungert. Die Heizungen funktionieren nicht mehr und werden durch improvisierte Holzöfen ersetzt, Brennmaterial wird knapp.

    12.10.41 Veröffentlichung der Entscheidung des „Oberkommandos der Wehr-macht“, eine Kapitulation Leningrads sei nicht anzunehmen.

    November 1941
    Der Prozentualanteil der Zusätze im Brot (schimmeliges Mehl, Baumwollsamenkuchen, Zellulose) steigt auf 68 Prozent. Offiziell wurden bis Ende des Monats 11 085 Hungertote registriert. Die tatsächliche Zahl der Toten liegt wesentlich höher.

    15.11.41 Der Ladogasee beginnt zuzufrieren. Eine Woche später überqueren erste Wagen mit Lebensmitteln das brüchige Eis. Im Laufe des Winters werden es mehr, aber erst ab Februar 1942 kommen ausreichend Lebensmittel über die „Straße des Lebens“ nach Leningrad.

    20.11.41 Kürzung der Brotrationen auf 250g für Arbeitgeber und 125g für Angehörige und Kinder, ansonsten gibt es keine Nahrungsmittel.

    Dezember 1941
    Offiziell gemeldet werden in diesem Monat über 53 000 Hungertote.


    1942
    Januar 1942 Wasserversorgung und Kanalisation brechen zusammen, erst im Juni werden sie teilweise wiederhergestellt.

    17.01.42 Von Leeb wird durch Küchler als Oberbefehlshaber der „Heeresgruppe Nord“ abgelöst.

    Januar/Februar 1942 Im Januar und Februar schwanken die offiziellen Angaben über Anzahl der Toten zwischen 3000 und 8000 täglich.

    11.02.42 Erhöhung der Brotration auf 500g für Arbeiter und 300g für Angehörige und Kinder.

    Sommer 1942
    Hunger bleibt die Haupttodesursache in Leningrad. Bis zum Sommer 1945 wird in Parks und öffentlichen Anlagen Gemüse angebaut. Von November 1941 bis Ende 1942 hat das Leningrader Beerdigungsinstitut 460 000 Tote begraben. Soldaten und Freiwillige transpor- tieren in dieser Zeit 228 263 Tote zu den Friedhöfen. Für die Wintermonate 1941/42 liegen keine genauen Zahlen vor, da viele Opfer in Massengräbern begraben wurden

    1943
    18.01.43 Schlüsselburg wird von den sowjetischen Truppen unter Goworow und Merezkow zurückerobert, der Belagerungszustand ist durchbrochen.



    1944
    14.01.44 Beginn des Großangriffs der Roten Armee gegen die „Heeresgruppe Nord“.

    22.01.44 Letzter deutscher Artilleriebeschuss Leningrads.

    27.01.44 Leningrad wird vollständig von der Blockade befreit. Ungefähr eine Million Menschen sind an Hunger, Kälte und Artilleriebeschuss gestorben, möglicherweise noch mehr.

    (In Auszügen zitiert nach: „Blockade, Leningrad 1941-1944. Dokumente und Essays von Russen und Deutschen.“ Hrsg.: Antje Leetz und Barbara Wenner, Rowohlt Verlag, Reinbeck 1992.)