ALLE JUDEN RAUS!
Ein Film von Emanuel Rund
Stab:
Regie und Kamera: Emanuel Rund
Ton: Thomas Meyer, Reinhard Gloge
Schnitt: Annette Dorn
Sprecher: Loni von Friedl, Jürgen Schmidt
Musik: Giora Feidmann und Musik der Synagoge
Produktion: Katrin Seybold Film GmbH
Darsteller:
Inge Auerbacher
Regina Auerbacher
Edith Bader
BRD 1973/74 16 +35 mm,s/w,110 min.
FSK: ab 6 Jahre
Prädikat: besonders wertvoll
Inhalt
"Es ist zum Verzweifeln.In den Freiesten steckt ein Hochmut und Widerwille gegen die Juden, der nur auf Gelegenheit wartet, um zu Tag zu kommen. "1880,Berthold Auerbach, Vorfahre Inge Auerbachers -"Der Schoß ist fruchtbar noch..." Berthold Brecht Am 9.November 1989 wird auf dem Platz in Göppingen, auf dem vor 50 Jahren die Synagoge von Nazis zerstört wurde, eine Gedenkfeier abgehalten. Schülerinnen und Schüler von heute befragen Bürger aus dem heutigen Göppingen, wie sie sich damals verhalten haben angesichts der Verbrechen an den Juden. Die Jüdin Inge Auerbacher war eines der hundert Kinder, die das KZ Theresienstadt überlebt haben. Sie und ihre Mutter erzählen von ihren deutschen Freunden und Nachbarn aus dieser Zeit der Verfolgung in ihrer Heimstadt Göppingen. Was wissen wir heute über den Beginn des Holocaust, über die systematische Verfolgung und Vernichtung unserer jüdischen Mitbevölkerung, die in jeder deutschen Stadt stattfand -und wie gehen wir damit um?
Emanuel Rund zu seinem Film:
Als ich wissen wollte, was mit meinen Großeltern im KZ Theresienstadt geschah, suchte ich nach Überlebenden. Ich traf Inge Auerbacher und viele, die mir von ihrem Leiden erzählen konnten. Als ich wissen wollte, was meinen Großeltern in ihrer Kleinstadt in Deutschland passiert ist, traf ich Nachbarn und viele, die sagten, sie wußten von nichts. An vielen Orten sind die Spuren der Existenz von uns Juden vernichtet worden. Während der Dreharbeiten fanden sich plötzlich Deutsche, die bereit waren zu sprechen. Vielleicht weil wir Juden sind? Dies ist der letzte Moment, Zeugen zu finden. Schon wieder droht uns Antisemitismus in Europa. Jahrhundertelang hatten meine Vorfahren in Ostfriesland gelebt. Mein Großvater war Viehhändler. Für die jüdische Gemeinde war er Kantor, ritueller Schächter und Kultusbeamter. Um im I.Weltkrieg als Soldat nicht verhöhnt zu werden, mußten die Juden sich durch Tapferkeit auszeichnen. So erhielt mein Großvater das Eiserne Kreuz, wie viele andere Juden. Die meisten von ihnen verschleppte man in das KZ Theresienstadt. Nach dem I.Weltkrieg war mein Großvater Leiter des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten in Ostfriesland.1933 bekam er als ritueller Schächter Berufsverbot und kam für kurze Zeit ins Gefängnis.Am 9.November 1938 forderte der Bürgermeister von Leer die SA auf,"die Wolffs in ihrem Käfig zu verbrennen".Gemeint waren meine Großeltern,die eine Wohnung in der Synagoge hatten. Meine Großeltern Ida und Joseph Wolffs wurden von Deutschen ermordet und ich bin auf der Suche nach Spuren ihres langen Weges durch das Elend hier in Leer nach dem,was mein Großvater in Sachsenhausen durchmachen mußte,nach Spuren der "Umsiedlung" meiner Großeltern nach Berlin,ihrer Deportation in die KZ ihres Todes. Meine Mutter war schon 1933 nach Holland geflohen,daher weiß sie nicht so viel über diesen Lebensabschnitt meiner Großeltern.Es ist schmerzlich für sie,diesen Dingen nachzugehen und davon zu erzählen -sie hat nur gehört,daß beide in Theresienstadt waren.Der Großteil der Familie meiner Eltern wurde ermordet.Ich wuchs mit wenigen, entfernten Verwandten auf -nicht in Deutschland.
Pressestimmen:
"Alle Juden raus!", ein deutscher Dokumentarfilm über die Judenverfolgung in einer deutschen Kleinstadt, will der nachgeborenen deutschen Jugend erzählen, was mit den jüdischen Nachbarn ihrer Großeltern und Eltern in der Zeit von 1933 bis 1945 geschah. Emanuel Runds Film provoziert,ohne zu beschuldigen. Seine Kameraführung ist zurückhaltend. Er läßt, was neu ist,verschiedene Personenkreise unterschiedlichen Alters zu Wort kommen:Einerseits lernen wir Inge Auerbacher kennen,die 1942 als Siebenjährige mit ihren Eltern ins KZ Theresienstadt deportiert wurde und dort drei Jahre ihrer Kindheit verbrachte,andererseits erleben wir Zeitzeugen der Täterseite.Gerade diese "Normalbürger",die arglos erzählen,verdeutlichen,wie Greueltaten -staatlicherseits legalisiert -ausgeführt werden können, wenn Menschen bereitwillig mitmachen,in wichtigen Momenten nachgeben,zugucken,wegschauen oder schweigen.Emanuel Rund verwendet zusätzlich historisches Filmmaterial der Dreißiger Jahre,das einerseits die umfangreich,gesetzlich angeordneten Verbote,die die jüdischen Bürger von ihren Nachbarn immermehr ausgrenzte, dokumentiert und andererseits das familiäre Alltagsleben deutsch- jüdischer Bürger zeigt.Den Nerv des Zuschauers trifft Emanuel Rund dadurch,daß es Nachgeborene der III.Generation der ehemaligen Täter, Mitläufer,Jubelnden,Schweiger oder Dulderseite sind,die die ehemals Verfolgten und die Mitläufer befragen.Es sind nicht Rebellierende,die Fragen stellen,sondern höflich,vorsichtige deutsche Schülerinnen und Schüler,Nicht-Juden.Gebannt schaut und lauscht der Zuschauer,wenn die Ehemaligen noch heute unreflektiert,in alter Kontinuität antworten, ohne zu spüren,was sie bei der Schülerseite und dem Zuschauerpublikum auslösen. Ich wollt'ich wär'ein kleiner Vogel,der singt und fliegt,wohin er will und niemand fragt,warum',wünschte sich Inge als Kind in Theresienstadt.Von fünfzehntausend Kindern,die inzwischen 1941 und 1945 im KZ in Theresienstadt eingesperrt waren,haben etwa hundert überlebt.Dieser unbekannten Masse der ermordeten Kinder gibt Inge ein Gesicht,eine Stimme,die gegen das Schweigen,Verdrängen ankämpft.Sie ist bereit,zu erzählen,was geschah." SFB,Nea Weissberg-Bob,18.2.1991 "Bewegende Dokumentation eines jüdischen Familienschicksals in Göppingen:Mutter und Tochter,Überlebende aus Theresienstadt,auf den Spuren ihres ganz normalen deutschen Bürgerlebens -ehe sie ausgrenzt,enteignet und entrechtet wurden.Der Regisseur kommentiert nicht -er hört zu (auch den seltsamen Watteformulierungen eines alten Blockwarts). Familienfilme aus den 30er Jahren -verdrängte deutsche Stadtgeschichte".
Abendzeitung,München 25.6.1990
"Über das Gestern deutscher Befindlichkeiten hat Emanuel Rund einen der bewegendsten und wichtigsten Filme über das Verbrechen an den Juden gestaltet:"Alle Juden raus!"zeichnet am Fall Göppingen deutsche Psychologie von einst und jetzt."
Abendzeitung,München 27.6.1990
"Doch die Erlebnisse in Theresienstadt,die mit aktuellen Aufnahmen aus den Resten des Lagers illustriert und mit der Beschwörung von Enge, Trennung und Tod belebt werden,bilden nur den Schlußpunkt einer Spurensuche in der deutschen Provinz,wo die mißliebige Minderheit ohne jede Geheimhaltung eingekreist worden war,bevor sie unter Ausschluß der Öffentlichkeit ermordet wurde". Frankfurter Allgemeine Zeizung,18.3.1991
"Inge Auerbacher,die ,1934 in Kippenheim geboren,von 1938 bis zu ihrer Deportation 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt in Göppingen lebte,traf Emanuel Rund erstmals 1981 in New York,als er auf der Suche nach der Geschichte seiner eigenen Familie war,von deren Mitgliedern,aus dem ostfriesischem Leer vertrieben,wo Rund auch geboren wurde,nur wenige die Nazizeit überlebten.Die gebürtige Kippenheimerin ist für Rund eine der Betroffenen,"die mir von ihrem Leid erzählen konnte."Für Rund ist das auch gut so,denn er weiß,daß an vielen Orten "die Spuren der Existenz von uns Juden vernichtet worden"sind.Wichtig für den Regisseur auch dies:"Hier in einer deutschen Kleinstadt (gemeint ist Göppingen),wurden unserem Volk alle Rechte geraubt und später auch unser Besitz",sagt Rund."Der Beginn des Holocaust war hier,bei unseren Nachbarn,bei unseren deutschen Mitbürgern."
Badische Zeitung,29.6.1990
"Die spürbare Diskrepanz zwischen den Erlebnisberichten von Opfern und Zuschauern erzeugt endlich das nötige Gefühl des Grotesken. Unfaßbares statt der häufigen vertretenen beschämten Betroffenheit. Endlich mal wieder ein Film,der das Ausmaß an Leid von seinem abstrakten Charakter befreit." Allgemeine Jüdische Wochenzeitung,28.2.1991 "Eine Schulklasse aus München hat seinen Film gesehen.Der Lehrer erzählte Rund,manche seiner Schüler hätten danach angefangen,selbst die Geschichte ihrer Familie im Dritten Reich zu recherchieren."
Berliner Morgenpost,14.2.1991
"Als Historiker und Lehrer bin ich der Ansicht,daß nur Dokumentarfilme wie dieser Jugend,den Nichtjuden und den Juden das Geschehen,das Entsetzliche des Holocaust nahebringen könne.Zahlen verschleiern das Schicksal der Juden,deshalb kann man sich nicht mit den Opfern identifizieren....Ich zweifle nicht,daß dieser Film eine wichtige Ergänzung zur Geschichte des Holocaust ist...und mehr Mitgefühl bei den erwachsenen Zuschauern hervorrufen wird." Prof.Josef Walk,Leo Baeck Institute,Jerusalem,11.4.1991
Bio -Filmografie Emanuel Rund
Geboren 1946 als Kind deutsch-jüdischer Emigranten aus Berlin und Leer/Ostfriesland.
Arbeit als Bildjournalist,
Ausbildung als Filmkameramann bei CBS.
Regisseur und Kameramann bei vielen Film-und Fernsehproduktionen und Werbefilmen.
Lehrte Film in New York und arbeitete in New York, Los Angeles, Nashville, Jerusalem.
Lebt in München.
Festivals
1990 Filmfest München
44th Edinburgh
International Film Festival
Independent Feature Film
Market New York
Chicago International Film Festival
Biberacher Filmfestspiele
1991 Internationale Filmfestspiele Berlin
Los Angeles International
Film Festival
Minneapolis Film Festival
Denver International Film-Society
American Film Institute,
8 th Annual European Cinema, Washington
Jewish Film Festival of San Francisco
British Film Institute, London Jewish Festival
Australien Film Institute, Jewish Film Festival, Sydney &Melbourne
Beim Chicago International Film Festival erhielt der Film die Auszeichnung "Silver Hugo".
Filmauswahl
1973 -1976 Health and Human, Behaviour (20 Kurzfilme)
1976 Bob Dylan in Concert (langer Dokumentarfilm)
1981 Bette Midler in Concert (langer Dokumentarfilm)
1985 Elie Wiesel in Spanish Harlem (TV)
1986 Art speaks across Cultures (Kurzfilm)
1989 Leer -Bis wann?(langer Dokumentarfilm), Inge und der gelbe Stern (Kurzfilm)
1990 Deutsch ist meine Muttersprache (TV)
Co-Regie mit Katrin Seybold
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