Barluschke
Psychogramm eines Spions
Ein Dokumentarfilm von Thomas Heise
Stab:
Buch und Regie:Thomas Heise
Kamera: Peter Badel
Schnitt: Karin Schöning
Ton: Uve Haußig
Mischung: Hartmut Eichgrün
Produktions-Leitung: Frank Löprich
Produktion: ö-Filmproduktion Frank Löprich & Katrin Schlösser
Uraufführung:
40.Internationales Festival für Dokumentar-und Animationsfilm
Auszeichnung mit der Silbernen Taube, 1997
Berlinale 1998,
Neue Deutsche Filme
Produktion gefördert:
Filmboard Berlin Brandenburg,
Filmbüro Nordrhein-Westfalen,
Kulturelle Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern,Stiftung Kulturfonds, Dänisches Filminstitut Filmwerkstatt
Verleih gefördert:
Filmboard Berlin-Brandenburg
BRD 1997, 16 mm, Farbe, 90 min
"Ich habe die Kamera in den Raum gestellt und einfach laufen lassen. Um irgendwelche Gespräche aufzunehmen.Im Grunde eine Art Bestandsaufnahme oder Momentaufnahme. Schön, wenn man Bild und Ton hat. "(O-Ton Berthold)
"Auf englisch würde man sagen gothic, gloomy. Da war alles dunkel, nichts ausgesprochen, nie. Aber da waren sehr intensive Gefühle." (O- Ton Joana)
"Du hast ein gewisses Repertoire. Dann ziehst du den entsprechenden Film und läßt ihn ablaufen." (O-Ton Berthold)
Inhalt
Der Film beginnt am Tage der Trennung von Joana und Berthold Barluschke. Er erzählt davon, wie sich jemand in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verlaufen hat in seiner Sehnsucht danach, etwas Besonderes zu sein und dabei erst ein Handlanger des Staatssicherheitsdienstes der DDR und dann des Bundesnachrichtendienstes der BRD geworden ist. Ein Mann im Auftrag wechselnder Ideologien, deren Ziele er nicht erinnert. Der, was er für sein Leben hält, zur Legende verklärt. Ein Agent. Ein Mann, der,als die Geschäfte erledigt sind und er nicht mehr gebraucht wird, eine Kamera auf seine Familie richtet wie eine Waffe. Eine Kamera, die kalt notiert. Berthold Barluschke, dessen Frau Joana immer noch hofft, die Familie werde eines Tages wieder beisammen sein und daß etwas Positives aus allem herauskomme. (Thomas Heise) "Die Masken eines Menschen". Auch wenn 'Arbeit' ein zentrales Thema dieser Filmwoche war, dem sich auch ein vorgeschaltetes dreitägiges 'Atelier' in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Dokumentarfilminstitut widmete, blieben vor allem jene Filme im Gedächtnis, die jenseits des Abgebildeten ein Geheimnis bargen und dem diesjährigen Motto der 'Erscheinungsbilder' damit am nächsten kamen. Barluschke von Thomas Heise etwa, der die Gestalt eines antiken Dramas hat. Hauptfigur ist der ehemalige Agent der DDR Barluschke, Gegenspielerin ist seine (amerikanische) Frau. Die Geschichte entwickelt sich langsam und bricht im fünften Akt auf wie ein Geschwür. Ein Epilog versucht zu beruhigen, wo keine Beruhigung mehr ist. Berthold Barluschke, der zu Beginn die gemeinsame Wohnung in Paris verläßt, hat eine Vergangenheit, mit der er und die Familie nicht mehr zusammenleben können. Daß er Agent war, ist noch das Geringste, wenngleich alles andere daraus folgt. In den USA lernt er in den 70er Jahren seine Frau kennen und heiratet sie unter falscher Identität. Die DDR ruft ihn 1980 zurück, Frau und Kinder kommen mit falschen Papieren mit. Den elterlichen Bauernhof erleben sie als einen finsteren Ort. Barluschkes Schwester hat sich umgebracht, und das Sorgerecht für ihren Sohn erhielt dank Barluschkes Beziehungen nicht der Vater, sondern die Großmutter. So ist Michael nun der Sohn von Barluschkes Mutter, bevor er das Kind Barluschkes wird. Barluschke arbeitet für den Außenhandel und bereitet seinen Absprung vor. Er hat einen Freund und Geliebten, den er seiner Mutter in die Küche setzt und seiner Frau vor die Nase. Er kontaktiert den BND, geht mit der Familie in den Westen. Der Freund stirbt, Barluschke ist HIV-infiziert. Er gründet eine eigene Firma und verkauft nach der Wende die Waffenbestände der NVA. Vom sozialistischen Ideal ist nichts mehr geblieben. Am Ende dann Paris und eine Krise in Permanenz. Streit um die Erziehung der Kinder. 'Bösartig' sei er im Moment, sagt seine Frau, und doch wünscht sie sich, daß die Familie zusammenbleibt. Die große Tochter will in die USA, der Sohn ist für einen solchen Ausweg noch zu jung. Wie soll man so ein Leben verfilmen? Heise versucht es im Gespräch. Barluschkes Frau Joana ist der ruhende Pol. Sie spricht von den Ungeheuerlichkeiten als wären sie keine. Mit Barluschke selbst ficht Heise einen Kampf aus. Er will die Masken des Agenten durchdringen. Manchmal gelingt es ihm ausgerechnet dort, wo er nicht insistiert:etwa wenn Barluschke mit Pathos die Musik von Mikis Theodorakis dirigiert, der früher vor den Mitgliedern des Politbüros auftrat und jetzt für die konservative Partei im griechischen Parlament sitzt; oder wenn er sich seinen Hochzeitstag als familiäres Retroszenario am Tisch der Mutter denkt; oder wenn er kocht und die Eloge auf ihre simple Mehlschwitze sein ganzes Drama offenbart. Immer wieder rekurriert Barluschke auf die Mutter, der er Ersatzsöhne verschafft, weil er der richtige Sohn nicht war. Der 'Fall Barluschke' , der zugleich als Psychodrama wie als politische Allegorie gelesen werden kann, ist ungeheuer spannend, weil Heise seine Figuren nicht ffenlegt. Schon die Fakten zu begreifen fällt schwer. Barluschke ist wie ein Knoten, an dessen Enden zwar gezogen wird, der sich aber nie ganz öffnen läßt."
Quelle:Eva Hohenberger über die Duisburger Filmwoche in film-dienst
2 5 /97
Pressestimmen zur Uraufführung:
"Nachdem das Leipziger Festival bis zur Halbzeit reichlich unaufgeregt verlaufen war, erhielt es Freitagabend mit Thomas Heises Barluschke einen kontroversen Höhepunkt....Berthold Barluschke war als Stasi- Agent "Knut Damasch" in den USA für die Herstellung von Geschäftskontakten und die Beschaffung von Embargogütern für die DDR zuständig. 1987 lief er zum BND über und nutzte nach der Wende seine alten Beziehungen. Doch Thomas Heise stellt nicht Barluschkes kriminelle Energien oder Agententätigkeit in den Mittelpunkt des Films, sondern erstellt -wiederum kommentarlos -das ambivalente Psychogramm eines Schergen der Systeme, der seine Identitäten wie Schubladen wechselt. Abwechselnd feinfühlig, brutal, pedantisch und erinnerungsselig, gibt Barluschke ein kinoreifes Bild vom aalglatten Manipulator. Skandalträchtiger Höhepunkt sind die von ihm selbst gedrehten Videoaufnahmen mit langen statischen Sequenzen, in denen der inzwischen vom BND gekickte Egomane Psychospiele abzieht, um seine Familie zu tyranisieren. Was Heises Film auszeichnet sind die Widersprüche und die Undurchschaubarkeit dieses Mannes, der nach eigenem Bekunden sein Leben dreißig Jahre lang in Filmen lebte und die Gründe seiner Frau und seiner Kinder, sich nicht von ihm zu trennen. Was nicht heißt, daß Barluschke dadurch an Sympathie gewinnt. Heise hingegen gewann mit diesem Film die Silberne Taube."
Marcus Sailer, Junge Welt 3.11.97
"Vom doppelten zum demütigen Leben.
Das 40.Leipziger Dokumentarfilmfestival.
Der Name klingt erfunden, aber er ist wohl echt: Berthold Barluschke. Ein Mann knapp über die 50, Kunstliebhaber, Familienvater und Spion. Vor der Kamera breitet er sein Leben aus -oder das, was er davon preiszugeben bereit ist. Die Kindheit im deutschen Osten, die Lust auf Abenteuer, der Weg aus Mittenwalde nach Amerika, Barluschke sollte für die Stasi in den USA Verbindungen knüpfen. Er war erfolgreich. Und ein Spieler, der irgendwann beschloß auch der CIA seine Dienste anzubieten. Die reichte ihn an den BND weiter. Nach dem Mauerfall verkaufte Barluschke Waffen der NVA. Ein Prozeß endete mit Freispruch, heute lebt er in einer Eigentumswohnung in Paris, und er hat Aids.
Der schizophrene Spion. Ein Stoff aus dem die Filme sind! Barluschke jedenfalls gehörte beim Leipziger Dokumentarfilmfestival zu den am meisten diskutierten Arbeiten. Regisseur Thomas Heise, der zuletzt ein ähnlich sprödes und ähnlich umstrittenes Porträt über junge Neonazis gemacht hatte (Stau - jetzt geht's los,1992), begegnet seinem Helden in kühler Gnadenlosigkeit. Der Mann wird zwar als Schöngeist eingeführt, mit Rotwein und Klavier, aber er verläßt den Film als genaue Gegenteil: als Choleriker, der seine Ausbrüche auf Videokamera festhält, das Objektiv wie ein Gewehr auf Frau und Kinder gerichtet. Kurz vor den Dreharbeiten hat sich die Familie von ihm getrennt, während er seine Vergangenheit und Zukunft zur Legende verklärt, die Gegenwart sowieso. Barluschke, ein Essay über Schizophrenie und Charakterlosigkeit. Ist ein fesselndes und verstörendes Werk. Die Leipziger Jury prämierte es mit der Silbernen Taube."
Ralf Schenk,Berliner Zeitung 4.11.97
Identität ist eine Mythe.
Diese Familie ist glücklich.
Nichts bleibt übrig.
Dienst ist Dienst.
Thomas Heise Biographie
1955 geboren,
1961-1971 Schule,
1971-1973 Druckerlehre,
1974-1975 Nationale Volksarmee,
1976-1978 Volkshochschule/Abitur,
1978-1982 Regieassistent im DEFA- Studio für Spielfilme,
1978-1982 Hochschule für Film und Fernsehen der DDR,
1982 Studienabbruch, freiberuflich tätig als Autor und Regisseur,
1990-1997 Berliner Ensemble
Ausgewählte Filme und andere Arbeiten
1978 Imbiss -Dokumentarfilm 16 mm s/w 5 Min.
1980 Wozu denn über diese Leute einen Film,Dokumentarfilm,16mm,s/w,33 Min.
1983 Vorname J nas
Originaltonhörspiel 82 Min.,
Ursendung "Fritz" 12/1989,
Hörspiel des Monats 1990,
Hörspielpreis
1985 Volkspolizei Dokumentarfilm,16 mm,s/w 60 Min.,verboten bis 1990
1986-87 Der Lohndrücker von Heiner Müller,Regiemitarbeit bei der Inszenierung von Heiner Müller am Deutschen Theater Berlin
1988 Germania Tod in Berlin, von Heiner Müller, Regiemitarbeit und Filmtitel der Inszenierung von Fritz Marquardt am Berliner Ensemble
1990 Imbiss Spezial, Dokumentarfilm, 35 mm, Farbe, 27 Min.
1990 Eisenzeit, Dokumentarfilm 35 mm, Farbe, 90 Min., Förderpreis Leipzig 1991,1.Preis DokArt Neubrandenburg 1991
1992 Stau-Jetzt geht's los Dokumentarfilm,16 mm,Farbe, 83 Min., Preis der deutschen Filmjournalisten Duisburg 1992, 1.Preis der niederländischen Fernsehakademie 1994
1993 Der Brotladen,von Bertolt Brecht, Inszenierung am Berliner Ensemble
1994 Zement von Heiner Müller Inszenierung im Kabelwerk Oberspree Berlin,Co-Produktion mit dem Berliner Ensemble
1996 Der Bau von Heiner Müller Inszenierung am Berliner Ensemble
1996 Förderpreis der Akademie der Künste zu Berlin
1997 Barluschke Dokumentarfilm, 16 mm, Farbe, 94 Min.,Silberne Taube des Dokumentarfilmfestivals Leipzig 1997
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