Der scharlachrote Buchstabe

Ein Spielfilm von Wim Wenders

ÑAm Anfang steht das Wort. 'Nordamerika in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Seit einer Generation leben die Einwanderer aus Europa in den Siedlungen entlang der Atlantikküste. Eine unerforschte Wildnis trennt Holländer, Engländer und Franzosen voneinander. Noch gehört das Land den Indianern.' In einer dieser Siedlungen, einem kleinen Puritanerdorf, lebt eine junge Frau mit ihrer unehelichen Tochter: Hester Prynne. An ihren Kleidern muß sie stets ein scharlachrotes A tragen - als Zeichen ihres Gesetzesbruchs, A für Adultress, Ehebrecherin. Einmal im Jahr muß sie deshalb an den Dorfpranger. Wo die Bewohner sie nach dem Namen des Vaters fragen, sie verspotten und schmähen. ÑDie Hure. Sie hat Schande über uns gebracht!" Hester Prynne aber sagt nur einen einzigen Satz. 'Das Kind soll seinen Vater im Himmel suchen!'

Der Konflikt liegt von Beginn an ganz offen. Die Gesellschaft ist dem Einzelnen entgegengesetzt, die öffentliche Moral (Puritanismus) dem individuellen Gefühl (Liebe); die konventionelle Regelung (Rechte des Ehemanns, auch seine Rache) der wahren Empfindung (Wünsche von Hester/ihrer Tochter/ihres Liebhabers). Diesen Konflikt abzuwandeln, dem Naheliegenden also, widersteht Wenders. ... Was vom Stoff her angelegt ist als Reflexion einer puritanischen, strikt strafenden Gesellschaft, beschreibt Wenders als individuelle Tragödie.

Der Lust nachzugeben an grellen, bunten, karnevalesken Bildern impliziert jedoch keineswegs die bloße Imitiation. ...

Im SCHARLACHROTEN BUCHSTABEN soll die Geschichte eher ungebrochen dahinfließen. Es ist Wenders dritter langer Film und sein erster Versuch im monumentaleren ErzählKino. Monumentaler in dem Sinne, daß die Geschichte über ein größeres Ensemble von Figuren erzählt wird, auch über eine umfassendere Inszenierung von Dingen: von Inseln, Küsten und den Wellen des Meeres, von Wäldern, Wiesen und weiten Ebenen, von Straßen und Häusern, von Kostümen und Schmuck, Frisuren und Perücken.

Zu Beginn, unter den Titeln, liegt eine malerische Totale, die singulär ist im WendersKino. Blaugrüne Wellen an rosagelbem Strand und darüber dunkelgrau der Himmel: Die Farben geben die Richtung vor, in die das ganze sich entwickeln wird. Die pastelligen Bonbonfarben von Strand und Meer, die auf AbenteuerKino à la Curtiz, King und Minnelli verwiesen, sind kontrastiert durch die dunklen, bedrohlichen, fast zum Schwarzweiß tendierenden Wolkenbilder, die eher an die HorrorPoesien von Whale, Tourneur und Browning erinnern. Das Märchenhafte des Ganzen ist damit geradezu übermächtig ausgewiesen. Nimmt man dieses Bild nicht wahr, geht es dem Zuschauer wie dem Laien vor der Partitur einer Sinfonie: Wird der Notenschlüssel übersehen, bleibt nur die Verwunderung vor der schrägen Tonfolge.

DER SCHARLACHROTE BUCHSTABE: Das ist das Kostüm von gestern und der Blick von heute. Das Märchen um Liebe, Strafe und Tod und die Faktizität von Energie, Stolz und Würde. Oder anders, ganz einfach: Es ist die Utopie, daß der einzelne doch zu trotzen vermag dem schleichenden Gift der Verhältnisse. ...

In kurzen Anmerkungen zum Western hat Wenders zu Jack Palance geschrieben, er verursache bereits durch sein bloßes Auftreten 'Erregung'.

Genau diesen Effekt, der für Emotionen sorgt über Erinnerung, sucht er nun in seinem KostümFilm zu nutzen - mit Senta Berger, die Anfang der 70er Jahre eine international begehrte Darstellerin war, und mit Hans-Christian Blech, den man kannte als knorrigen, widerborstigen Typ. Sie provoziert durchs bloße Auftreten knisternde Spannung, moralich und erotisch: Er gibt den Widerpart, verursacht eine Atmosphäre des Kalküls, die bedacht ist auf Kabale und Rache.

Ein Wirbelwind dabei zwischen allen Fronten: Yella Rottländer als Pearl, Tochter der Hester. Eine freche, unverschämte, oft 'elfenhaft kapriziöse' Göre, die durch ihr unkonventionelles, direktes Benehmen jede Ordnung in Frage stellt. Als sie vor den Gemeinderat gerufen wird, um zu erklären, wer sie erschaffen habe, antwortete sie (trotz Hesters flehendem Flüstern - 'der himmlische Vater'): 'Ich bin nicht erschaffen. Meine Mutter hat mich vom Apfelbaum gepflückt'. Das dreiste Lächeln, das dabei auf ihren Lippen liegt, zeigt, daß sie genau weiß, was sie tut. Über die Figur dieses Märchens kriegt Wenders jene Momente in den Film, die seine eigne Haltung andeuten. Die Heiligkeit des menschlichen Herzens, Hawthornes eigentliches Thema, bei Wenders ist sie (noch stärker als in Hester) in der kleinen Pearl zu spüren. 'Gefühle kann sie nicht leiden, wenn sie ihren Grund nicht begreift,' heißt es einmal über sie. Das genau ist Wenders' Standpunkt."

(Norbert Grob, ÑWenders" Edition Filme, Berlin 1991)

Im Basis-Film Verleih Berlin