Die Nacht, die Sterne, der Mensch.

Die Filme des Fred Kelemen

Was ist schon ein Mensch neben einem Stern? - Alles.  (Abendland)



Grobes Korn auf der Leinwand, angeschmutzte Farben, keine glatten, keine heilen Bilder, keine heile
Welt. Diffuser Strassenlärm, ein heruntergekommenes Viertel, Slum. Eine offenbar betrunkene Frau,
die auf der Strasse singt und tanzt, eine andere mit Kopftuch, eine dritte mit merkwürdigem Hut;
alte oder frühzeitig gealterte Männer, mit tief gefurchten Gesichtern. Alle bewegen sich unendlich
langsam. Wie im Traum. Ein jüngerer Mann, vielleicht um die dreissig, sitzt auf den Stufen des
Durchgangs eines Bahnhofs. Auf einem Akkordeon, das er auf den Knien hält, spielt er den langsamen
melancholischen Tango, den man von Anfang an gehört hat. Es sind immer wieder dieselben
zehn oder zwölf Takte, aber sie klingen immer wieder neu, weil Rhythmus und Lautstärke, dann
auch die Tonart wechseln. Das geht viele Minuten lang. So lange jedenfalls, bis man nicht mehr
möchte, dass das Akkordeon zu spielen aufhört.
Mit den ersten Einstellungen seines ersten langen Spielfilms VERHÄNGNIS hat Fred Kelemen allen
seinen bisherigen Filmen das Vorzeichen gesetzt und die Strategie vorgegeben: der Zauber ist eröffnet.
Immer wieder wird die Magie sich über die Dauer, ja Insistenz, über Dunkelheit, das Diffuse, die
Unreinheit der Bilder vermitteln, immer wieder über die Geräusche, die Töne oft von irgend woher,
Menschenlärm, Strassenlärm, Fabriklärm, Hundegebell; oder der Wind, oder ein Hubschrauber...
Dieser Zauber wird hungrig machen nach Zeit, die in den Bildern und Tönen wie eingeschlossen ist
und sich mit dem Film öffnet zu einer weiten, unendlichen Landschaft der Vorstellungen und
Gefühle. Spröde hat man sie genannt, sperrig, schwarz, tiefschwarz, diese Filme. Nichts davon trifft
zu. Was ungewöhnlich ist, ist nicht fremd, sondern anders als in anderen Filmen. Was verschüttet
ist, zugekleistert, verklebt, verdrängt: in diesen Filmen wird es offen gelegt, befreit, entsperrt.
Der Akkordeonspieler sitzt nicht mehr auf der kurzen Treppe im U-Bahnhof. Ein Chilene hat ihm
Geld angeboten und ihn mitgenommen in seine Wohnung. Er will lateinamerikanische Tangos
hören, immer wieder und nie genug. Nach dem letzten Tango legt er einen grossen Geldschein auf
den Tisch. Den soll der Akkordeonspieler bekommen, wenn er den Wodka trinkt, den er aus einer
Flasche in eine Blumenvase schütten musste. Die Gewalt, die aus Einsamkeit und Verlassenheit, aus
Heimatlosigkeit und Fremde erwächst, wendet sich gegen den anderen Heimat- und Hoffnungslosen.
Er wird sie nicht für sich behalten. Als er bei seiner Freundin Luba einen Mann antrifft, schlägt
er die Frau zu Boden, erschiesst er den Fremden und flieht in die Nacht. Die Frau aber steht erstarrt
vor der Leiche, die man durch ihre zitternden gespreizten Beine sieht. Dann sieht man und hört man
die Angst, den Schrecken, die Panik mit dem Urin, der aus ihr auf die Dielen vor dem Toten rinnt.

Auch in FROST prügelt ein Mann eine Frau, und auch in ABENDLAND ist sie virulent und wirklich,
die Gewalt, die durchweg sexuelle Gewalt ist.
Aber sie ist keine Lust und bringt nicht wirklich Befriedigung. Nichts dergleichen hat sie im Sinn.
Denn sie ist nur Sprache der Sprachlosigkeit, etwa des stets betrunkenen Mannes, der zuerst noch und
immer wieder sagt: „Aber ich hab dich doch lieb“, und dann die Frau, die ihn zurückweist,
zusammenschlägt (FROST). Oder des Freiers, der die Frau, die sich ihm verkauft hat und in sein Auto
gestiegen ist, übel zurichtet (ABENDLAND). Oder der Männerhorde, die in einer Kiezbar sich in eine
Massenvergewaltigung verliert (VERHÄNGNIS).
Sie ist auch die Sprache der sprechunfähigen Päderasten, die ein kleines Mädchen töten (ABENDLAND).
Die Gewalt steht in keinem Wörterbuch, obwohl sie eine Sprache des Lebens ist. Deshalb
gehört sie zum Vokabular dieser Filme.

Anton, der Arbeitslose, hat auf dem Arbeitsamt eine Angestellte niedergeschlagen, die ihn dazu
aufgefordert hatte, sich zu setzen. Er kann anders nicht mehr sagen, wie schlecht es ihm geht. Seine
Freundin, Leni, die Büglerin, in deren dürftiger Wohnung man ihn wiedersieht bei dem missglückenden
Versuch, zu ihr ins Bett und auf die Frau zu steigen, fordert ihn auf, ihr zu sagen, dass
er sie liebe, denn das tue er doch. Er sitzt, das Bier in der Hand, am Tisch und sagt kein einziges
Wort. Auch als die Frau ihn schlägt. Dann gehen beide in die Nacht. Sie werden einander nicht wiederbegegnen
vor dem Ende der Nacht, selbst wenn sie es könnten.

Immerfort bewegen sie sich fort, in ABENDLAND, in VERHÄNGNIS, in FROST, der langen Flucht der
Frau mit ihrem Sohn durch eine eisige Landschaft und vereiste Gefühle. Sie sind, auch wenn sie eine
Wohnung haben wie Leni, nirgendwo daheim. Es gibt keine Heimstatt, es gibt nur Stationen. Die
Orte sind Bahnhöfe oder Massenunterkünfte, Bars und Kneipen, Kellergelasse oder bestenfalls winzige
Zimmer, Mülldeponien, Fabrikhöfe, endlose Felder oder Strassen in verlassenen, menschenleeren
Vierteln, in denen schon lange niemand mehr wohnt, Gassen, durch die Hunde wie Wölfe streichen.
Jeder und jede ist einsam, sie sind jeder für sich allein, und wenn sie zu zweit sind, sind sie es
nur irgendwie, stationär, vorübergehend. Bis zur nächsten Station. Wenn diese Filme zuende gehen,
könnte hinter ihnen ein neuer beginnen. Denn auch jedes Ende ist nur eine Haltestelle, ist Station.

Etwa wenn der Akkordeonspieler der Frau, deren Liebhaber oder Freier er niedergeschossen hat,
wiederbegegnet. Da kommt sie aus dem Waldstück, wo man sie nach der Vergewaltigung in der Bar
offenbar hingekarrt hat; sie treffen sich im wüsten Gelände einer aufgelassenen Fabrik und gehen
in den Hintergrund des Bilds. Oder: Anton und die Büglerin Leni finden sich am Morgen nach der
langen Nacht der getrennten Reisen durch Kneipen und Kaschemmen, Absteigen und Abraumhalden
wieder in dem Zimmer mit Tisch und Bett, das sie getrennt verliessen. Der Mann sitzt am Tisch,
die Frau steht am Fenster. Dann sieht sie, am Ende, zu ihm hin. Könnte das ein neuer Anfang sein?
Und was wäre anders? Nichts hat sich wirklich geändert, aber alles könnte auch vollkommen anders
sein. Mit dem Kind, das in der letzten Einstellung von FROST vor der offenen Landschaft steht,allein.
Alles ist offen, alles kann neu beginnen, für das Kind, das diesen ganzen Film in Flammen hat aufgehen lassen.

Es ist oft dunkel auf der Leinwand, aber es ist ein Dunkel, das leuchtet. Es ist viel Nacht in den Filmen:
ihr Licht kommt aus anderen Quellen. Sie sind auch langsam, diese Filme, aber nicht, weil
nichts geschieht, sondern weil sie ausführlich sind. VERHÄNGNIS, 80 Minuten lang, besteht aus
nicht viel mehr als zwei Dutzend Einstellungen. Sie dauern drei, fünf, acht Minuten, und die in der
Bar, in die sich Luba geflüchtet hat, wo sie sich betrinkt und vergewaltigt wird, diese Einstellungssequenz
währt, ungeschnitten, etwa vierzehn Minuten. Keine dieser insistierenden Einstellungen
sperrt den Zuschauer aus: jede nimmt ihn mit. Die Filme sind lakonisch, es wird wenig in ihnen
gesprochen, aber man hört, was zu sagen wäre; man spricht es selbst. Und wenn in ABENDLAND längere
Dialoge vorkommen als in VERHÄNGNIS und FROST, dann wirkt das fast redselig, und ist doch
nur explizit: es wird nicht eine Geschichte wie in FROST, es werden nicht zwei wie in VERHÄNGNIS,
es werden mehrere Geschichten erzählt, die Geschichte schlechthin.

Fred Kelemen, Autor, Regisseur, Kameramann, Monteur seiner drei Filme, scheint sie aus der Armut
produziert zu haben, die das Insignium seiner Figuren ist. Und doch gibt es kaum reichere Filme in
Deutschland als diese armen. Ihr Licht ist die Nacht, ihr Weg ist die Beharrlichkeit der Kamera, ihr
Leben sind lange Augenblicke, wie es schönere lange nicht gegeben hat. Das Brot ihrer Menschen
sind Bier und Zigaretten, und ihr Dach ist der Himmel, zu dem die Prostiuierte Nina ihrer Zufallsfreundin
Leni hinauf zu schauen rät, wenn sie sich ganz am Ende fühle, und sich zu fragen, was denn
ein Mensch sei neben einem Stern. Lenis Antwort ist die Antwort Kelemens auf alle Fragen.

Was schon sind alle Sterne, die am Himmel des Kinos glitzern neben diesen Menschen, die nicht
mehr dazu imstande sind, sich zu sagen, dass sie sich lieben? Oder die es so oft sagen wie der stets
betrunkene Vater. Oder wie die Tangos des Akkordeonspielers auf der Treppe des U-Bahn-Schachts:
auch Musik ist Sprache wie die Sprachlosigkeit, wie die Gewalt, wie die Bilder der Nacht. Dieser Filmemacher
meint es verdammt ernst mit seinen Filmen. Deshalb ist er ein Purist, deshalb sind seine
Filme von einer Reinheit, wie es sie nicht mehr gibt im Alltag unseres Kinos. Man kann, wenn man
will, an Béla Tarr denken, oder an Filme von Andrej Tarkowskij. Oder an Alexander Sokurow. Dessen
frühe Filme atmen die gleiche Luft von Armut und Dürftigkeit, von Elend und Sprachunfähigkeit,
den Odem der Wirklichkeit. Nur dass sich bei Sokurow die Kamera vom Himmel stürzt und landet,
wo VERHÄNGNIS schon angekommen ist.

Sie sind keine Road-Movies, die Filme Kelemens, so unentwegt unterwegs die Menschen auch sein
mögen. Sie suchen keinen Horizont, wenn er nicht in ihnen selbst ist. Es sind Filme wie Kreuzwege
auf den Kalvarienberg. Die führen durch alle Erniedrigungen und Schmerzen, durch alle Qualen der
Hölle, die von dieser Erde ist. Der brotlos gewordene Glockengiesser lässt sich, die Füsse nach oben,
hinauf ziehen in sein letztes Werkstück. Sein Kopf wird zum Klöppel, aber die Glocke ertönt, die
sein vermisstes Kind nach Hause rufen soll. Man hört sie noch einmal, wenn das von der Geilheit
ermordete Kind durch die Strassen der verlorenen Stadt getragen wird. Auf den Armen des Mannes,
der nicht mehr in der Lage ist, von seiner Liebe zu sprechen. Jetzt sprechen seine Arme, die das
Kind tragen, und seine Schritte auf dem Pflaster.

(Vom Autor gekürzte Fassung seines im Filmbulletin Nr. 3, 2004 erschienenen Textes, Sept. 2005)