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  • BRD 1988, 16mm, Farbe/s-w, 92 Min.












    TEXTE ZUM FILM

    Filmblatt

    Aufrecht Gehen
    Rudi Dutschke-Spuren
    Ein Film von Helga Reidemeister


    Buch und Regie:
    Helga Reidemeister
    Kamera:
    Lars Barthel, Judith Kaufmann, Hartmut Lange, Fritz Poppenberg
    Kameraassistent:
    Peter Uhlig
    Ton:
    Katherina Rosa
    Tonmischung:
    Gemot Büger
    Schnitt:
    Petra Heymann
    Dramaturgische Mitarbeit:
    Mario Krebs
    Produktionsleitung:
    Thoma Dierks
    Redaktion:
    Werner Filmer (WDR),
    Rainer C.M. Wagner (SDR)

    Produktion:
    Journal Film,
    Klaus Volkenbon KG in Co-Produktion mit WDR und SDR


    BRD 1988
    16 mm, Farbe und s/w, 92 min.


    "Vom Traum einer anderen Lebensperspektive und den Hoffnungern einer Generation".

    Am 11. April 1968 wurde Rudi Dutschke, Symbolfigur der damaligen Protestbewegung, in Berlin von einem Attentäter niedergeschossen und schwer verletzt. Als Reaktion auf dieses Attentat erschütterten die schwersten Unruhen der Nachkriegszeit die Bundesrepublik. Helga Reidemeister macht sichtbar, wo sich die persönliche Lebensgeschichte Rudi Dutschkes mit gesellschaftlichen Entwicklungen, Widersprüchen, Fragen und Konflikten schneidet.
    De Frauenbewegung, die Friedens- und Ökologiebewegung bis hin zu den Bürgerinitiativen und 'Grünen' wäre ohne die 68er Revolte nicht vorstellbar.
    Der Film enthält Gespräche mit Weggefährten Rudi Dutschkes, mit Freunden, mit "antiautoritär" erzogenen Jugendlichen aus der APO-Kinderladen-Bewegung, die bezeugen, dass Einfluss und Wirkung der damaligen Protestbewegung in unterschiedlichen Formen weitergeht.


    - Ein deutsch-deutscher Lebenslauf -

    Solange Rudi Dutschke lebte, war er eine Negativperson der Gesellschaft. Attentat 1968 und Tod 1979 hatten gute Einschaltquoten im Fernsehen zur Folge. Und die Mehrheit der Tränen waren Krokodilstränen, gefolgt von echten Freudentränen: dem Attentäter Bachmann schickten die BerlinerInnen doppelt soviel Blumen ins Krankenhaus wie Rudi. Dessen 'radikale, kleine Minderheit' weinte privat und zog dann zum Springerhaus. Dezember 1979 ist nur noch eine kalte, depressive, wütende Erinnerung. Tod auf Raten, das scheint das Linke Schicksal in Deutschland zu sein.
    Als er 1940 in Schönefeld, in der Mark Brandenburg, geboren wurde, 'spielte' Deutschland den "drole de guerre" mit Frankreich. Später wurde es im Westen und Osten blutiger Ernst. Nach der Befreiung wird sein Vater Alfred Postbeamter. Rudi ist der jüngste von vier Söhnen. Er erhält eine protestantisch, pazifistische Erziehung. 1954 wird er konfirmiert. Er misst den Sozialismus am Urchristentum. DDR-Jugendmeister im Zehnkampf, auch das gehört zu seiner Geschichte. Analog zur Bundesrepublik führt auch die DDR den Wehrdienst wieder ein. Rudi soll vor seinem Abitur einen 6-wöchigen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee absolvieren. Er weigert sich öffentlich. Seine Verweigerung hat Folgen: er muss an der FU in West-Berlin studieren. Nach 1961 lebt er von seiner Familie getrennt. Für den preußischen Sozialismus zu pazifistisch, für den Frontstadtkapitalismus West-Berlins ein Kommunist.
    Die FU war als Bastion der Freiheit gegen die "Zone" gedacht. Gute Antikommunisten sollten hier produziert werden. Man war nicht so genau in der Auswahl: schlagende Verbindungen waren von den Alliierten verboten, doch der 1963 abgewählte ASTA-Vorsitzende Eberhard Diepgen war Mitglied einer dieser Burschenschaften. Um so eifriger versuchte man später, allen Linken die Mitgliedschaft in "ungesetzlichen" Gruppen nachzuweisen. Demonstrationen für die Dritte Welt, die logisch in Anti-Vietnam Kriegsdemonstrationen übergingen: "langhaarige Rowdys", diese protestierenden Studenten. Die wagten es sogar, von der Polizei vorgeschriebene Demonstrationswege zu verlassen, (die sie durch meist unbewohnte Gegenden führte); glücklicherweise wusste die Polizei, wie man mit solch "Pack" umging: den Knüppel drauf. Die Universitätsspitze war erschrocken: Hatte man wirklich solche Schlangen am freiheitlichdemokratischen Busen genährt? Das gesunde Volksempfinden, durch Springers Wort und Bild angeheizt, wusste die Antwort: Arbeiten statt demonstrieren, oder besser noch: gleich vergasen. "Rüber in den Osten" war die mildere Variante.
    Das Attentat am 11. April 1968 war nur eine logische Folge dieser Hetze. In West-Berlin herrschte eine Pogromstimmung, die vom damaligen Senat noch geschürt wurde: bei einer Demonstration für die "Freiheit", d.h. den Status quo, wurde ein junger Mann, der Dutschke ähnlich sah, fast vom Mob gelyncht.
    Diese "senatstreuen" Demonstranten hatten übrigens den Nachmittag freibekommen, bei voller Lohnvergütung, versteht sich. Ähnlich wie die "Jubelperser" wurden sie in Bussen chauffiert. Die "freie" Presse schrieb nicht, wie bei DDR-Demonstrationen üblich, vom "bezahlten Mob auf der Strasse".
    Die Anzahl der Blumensträuße (siehe oben) zeigte, wer hier die Mehrheit hinter sich hatte; und auch was diese Mehrheit von der Anwendung von Gewalt hielt. Doch die französische Polizei in Calais im Dezember desselben Jahres schlug ebenso munter auf den Rekonvaleszenten ein, wie die deutsche Polizei Weihnachten 1978 in Hamburg. Angesichts der Hysterie um die Kiesinger-Ohrfeige der Beate Klarsfeld ein weiteres Kapitel zum Anschauungsunterricht des Gewaltverständnisses in der BRD: Man stelle sich einmal vor, einem zusammengeschossenen Ex-Nazi, in mittlerer oder höherer Position in der BRD , wäre das Gleiche passiert. Die Tränen der Empörung, nicht nur in "Bild" oder "BZ", wäre nur so geflossen . Dabei hatte Rudi am Grabe von Holger Meins ausdrücklich gesagt, dass der Kampf weitergehe, nicht der Gewaltkampf gegen den Staat. Und es grämte ihn, dass manche Genossen keinen Unterschied machten zwischen dem Guerilla-Kämpfer der Dritten Welt oder Südafrika und den Stadtguerillas in der BRD oder anderen Industriestaaten. Durch Europa hetzte man ihn wie einen Aussätzigen. Zweimal aus Großbritannien, das heute noch NS-Verbrecher beherbergt, ausgewiesen, war Dänemark das einzige Land, das ihn aufnahm. In Aarhus lehrte und erholte er sich. Von dort aus unternahm er bald wieder längere Reisen durch Europa und in die beiden Deutschlands. Er traf andere Exilanten, aus verschiedenen Systemen und Zeiten, wie Erich Fried in London. Die nicht vollendete Aufgabe in der BRD ließ ihm keine Ruhe. Sein preußisches Pflichtbewusstsein war stärker als die Rücksicht auf sich selbst. Er wurde gebraucht: Die westdeutsche Linke war nach der Selbstauflösung des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) in selbstmörderische Gruppenkämpfe verwickelt. Die,,Grünen" waren noch eine Zukunft, die er nicht mehr erlebte, obwohl er sich noch zwei Monate vor seinem Tod an Partei-Gründungsdiskussionen beteiligte: eine integrierende Kraft bis zum Ende.
    (André Simonoviescz)

    Der Film enthält folgende Filmzitate:
    Ulrike Marie Meinhof ,,Die Verteidigung", 1967,
    Carlos Bustamente ,,De Opresso Liher", 1968,
    Helke Sander ,,Brecht die Macht der Manipulateure", 1968, ,,Der subjektive Faktor" , 1980,
    Thomas Giefer ,,Terror auch im Westen", 1981, sowie: Deutsche Wochenschau,
    Ullstein - Bilderdienst, Landesbildstelle Berlin, ARD- Fernseharchive


    Man ist zunächt versucht aufzuzählen. was dieser Film über Rudi Dutschke alles nicht ist: keine Personality-Show, kein Nostalgie Streifen, kein Sensationen-Bilderbogen. Und was ist er? Ein ausführliches, genaues Portrait- und mehr: ein streckenweise gut gelungener Versuch zu zeigen, dass Rudi Dutschke, der vor acht Jahren starb, nicht tot ist, dass seine Ideen, seine Visionen, seine Aktionen noch wirken. Obwohl das öffentliche Klima ein ganz anderes ist, und obwohl viele, die heutzutage seine Wege weiterwandern, gar nicht wissen, dass es seine waren.
    Und das wäre Dutschke, so wie Helga Reidemeister ihn gezeichnet hat, auch ganz egal gewesen. Er dachte wenig über seine Person, seine Wirkung, seine Bedeutung nach. Seine Gedanken waren immer woanders: bei der Utopie, in der Geschichte, unter "den Massen". Er war das, was man einen ,"politischen Menschen" nennt. Mit Narzissmus, Selbstverwirklichung oder Betroffenheit hätte er kaum etwas anfangen können. Sein Begriff
    von Subjektivität war politisch und ganz bezogen auf die ,,Veränderung der Umstände" - nicht nur sein Begriff, sondern der Impetus der ganzen Bewegung, die er inspiriert hat. Was die Bilder betrifft, verzichtete Reidemeister weitgehend auf spektakuläres Material. Man sah Dutschke am Pult, im Audimax, zuhause, sah seine Heimat bei Luckenwalde, seinen Zufluchtsort Aarhus, sein Wirkungsfeld Freie Universität. Dazwischen, zur Erinnerung, kurz, wie es sich für Zitate gehört, Blitzlichter aus der Zeitgeschichte: der Schah-Besuch, der Vietnam-Krieg, die ,,Bild"-Berliner, prügelnde Polizei. Dann immer wieder die Angehörigen, die Zeugen, die Freunde. Und die Erben: gegen Ende diskutierte eine Jugendgruppe darüber, ob die Verweigerung nicht doch dem Marsch durch die Institutionen vorzuziehen sei.

    Die Zeit, 22.4.1988


    Ein Dialog:

    ,,'Also, ich glaube, dass man ganz ohne Gewalt bestimmt nicht auskommt', sagt Karola Bloch. Die alte Dame mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, schlohweißen Haaren, im eleganten Kostüm, sitzt auf dem Sofa in trauter Gemeinsamkeit mit Helmut Gollwitzer, raucht eine Zigarette nach der anderen und spricht, halb zum Gesprächspartner, halb zur Kamera gewandt, die unerhörtesten Dinge mit größter Selbst-Verständlichkeit aus. Oder sind nicht vielmehr die Einsichten, die sie ausspricht, selbstverständlich? Besteht das Unerhörte eher darin, dass sie ausgesprochen werden - noch dazu in Deutschland. (...) ln der Tübinger Wohnung von Frau Bloch ist heller Tag, die Sonne scheint durchs Fenster und streichelt ein Poster an der Wand mit einem berühmten Foto: es zeigt den alten Ernst Bloch mit Rudi Dutschke und dem kleinen Hosea Che.
    , 'Selbstverständlich bin ich für Gewalt, nicht nur gegen Sachen, sondern gegen solche Menschen, die dem Fortschritt schaden, da habe ich gar keine Skrupel', sagt die alte Dame und bläst den Rauch ihrer Zigarette steil in die Luft. Sie sagt das ganz trocken. Die Sache ist so glasklar, dass sie sich wohl ein bisschen wundert, überhaupt darüber sprechen zu müssen. 'Da bin ich zu sehr als Revolutionärin aufgewachsen. Ohne Gewalt wäre keine Revolution gelungen'. 'Also', sagt Helmut Gollwitzer und räuspert sich. Die Kamera schwenkt zu ihm hinüber und präsentiert sein rundes, faltiges, freundliches, noch immer zu jedem Streit aufgelegtes Theologengesicht. 'Also, als Jünger Jesu' -Karola Bloch, fast schneidend: 'Als was?' Schneller Kameraschwenk. Ihr Kopf ist herumgefahren, das Profil der Nase zeigt sich in beinahe einschüchternder Schärfe. Als was? Entweder hat sie Gollwitzer nicht verstanden, oder sie traut ihren Ohren nicht. 'Als was?' Gollwitzer: 'Als Jünger Jesu von Nazareth-'
    Karola Bloch: 'Aha!' Kopfwendung nach vom, trockener Blick in die Kamera, starker Zug an der Zigarette, Rauchausblasen, Augenaufschlag zur rechten oberen Zimmerecke. Gollwitzer: '- habe ich da natürlich viel größere Hemmungen.' Gollwitzer erläutert nun ausführlich, warum er als Jünger Jesu in der Gewaltfrage viel größere Hemmungen hat. Die alte Dame hört geduldig zu, um ihre Mundwinkel zuckt es kaum merklich. Sie wird gleich noch einmal ein deutliches Wort zur Verteidigung der Gewalt einlegen, aber ihr Augenaufschlag hat bereits alles, was zu sagen wäre (die leisen Gedanken eingeschlossen, die das Gesagte grundieren und ihm die Spitzen verleihen), preisgegeben. Dieser Augenaufschlag war das Glanzlicht der ideologischen Debatte auf dem Tübinger Sofa. Ein mit dem Blick gesetztes Ausrufezeichen, eine aus dem Auge springende ironische Interjektion. Ein kleiner Pfeil, zur Seite abgeschossen, für den Gesprächspartner unsichtbar. Spontan und präzis, von der Schönheit jener unbewussten Regungen, in denen ein Gran Mutwille mitspielt. Eine ebenso maliziöse wie liebenswerte Fußnote in der Konversation zwischen zwei notorisch unbelehrbar junggebliebenen Altlinken, die nicht von der komischen Gewohnheit lassen können, sich über die ernsten Fragen der Geschichte ernsthaft und mit Lust am Dogmenstreit auseinanderzusetzen. Ein Augenaufschlag, der ein Geistesblitz war, in dem etwas Verlorengegangenes funkelte: die Sinnlichkeit der mit Verve, Ironie und (ja: auch) Starrsinn verteidigten Doktrin. Der Eros heftig gelebter, unverbesserlich aufklärerischer Intellektualität. (...)"

    Klaus Kreimeier, in: epd Film 5/88