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  • Berliner Stadtbahnbilder

    Berlin 1982, 60 Min., Farbe, 16 mm (Lichtton), digital



    STAB

    Buch und Regie
    Winterkamera
    Sommerkamera
    Ton
    Schnitt
    Dramaturgie
    Gesamtleitung
    Redaktion


    Produktion

    Alfred Behrens
    Jürgen Jürges
    Fritz Poppenberg, Michael Kuball
    Manfred Herold
    Ursula Höf
    Karsten Witte
    Clara Burckner
    Eckart Stein
    Anne Even
    Das kleine Fernsehspiel
    Basis-Film Verleih GmbH Berlin
    in Zusammenarbeit mit dem ZDF

    BIOGRAFIE

    BioFilmografie Alfred Behrens

    Geboren 1944 in Hamburg-Altona. Lehre als Verlagskaufmann. Studium an der Meisterschule für Grafik Druck und Werbung Berlin / heute Studiengang „Wirtschafts- und Gesellschaftskommunikation“ der Universität der Künste Berlin. Werbetexter. Programm-Assistant bei der BBC London. Übersetzer und Journalist. Seit 1971 Autor und Regisseur. Seit 1987 Dramaturg & Hochschullehrer.

    Seit Juni 2004 Professur „Drehbuch Schreiben“ an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg.

    Bücher

    -Gesellschaftsausweis, Suhrkamp 1971
    -Künstliche Sonnen, Suhrkamp 1973
    -Die Fernsehliga, Rotbuch 1974
    -Berliner Stadtbahnbilder, Ullstein 1981 (zusammen mit Volker Noth)
    -Berliner Stadtbahn, Ullstein 1995 (zusammen mit Volker Noth)

    Hörspiele / Audio Books

    Seit 1968 mehr als 50 Hörspiele, Manuskripte und Regie
    - Zuletzt: NEUROMANCER / Nach dem Roman von William Gibson
    - Dreiteiler für Radio Bremen und den WDR / Hörbuch auf dem Label „der audio verlag“

    Drehbücher / Filme
    Seit 1975 zahlreiche Kurz-, Kompilations, Dokumentar- und Spielfilme/Fernsehspiele, Buch und - oft auch - Regie

    Dramaturgie und Lehrtätigkeit

    Berliner Drehbuchwerkstatt / Filmhaus Frankfurt / Studiengang „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste Berlin / Writer In Residence Grinnell College Iowa / Gast-Professur Drehbuch am Deutschen Literatur-Institut der Universität Leipzig / Step By Step-Programm Master School Drehbuch / Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg

    Auszeichnungen

    -Hörspielpreis der Kriegsblinden 1973
    -Adolf Grimme-Preis 1979 für „Familienkino“
    -Kodak-Fotobuchpreis 1981 für „Berliner Stadtbahnbilder“
    -Bundesfilmpreis 1982 für „Berliner Stadtbahnbilder“
    -Adolf Grimme-Preis 1983 für „Teufelsmoor“
    -Frankfurter Hörspielpreis 1987
    -TAGESSPIEGEL-Literaturpreis 1987 für die Erzählung „Remake:Berlin“

    -Hörspiel-Preis der Akademie der Künste 1987
    -International Premios Ondas 1994 für „Stealth Fighter“
    -Deutscher Drehbuchpreis 1995 für „Kein Wort Von Liebe“
    -World Silver Medal 2001 bei den New York Festivals für das Hörspiel „Riverside Drive“ in der Kategorie
    „Best Radio Drama Special“
    -World Bronze Medal 2004 bei den New York Festivals für das Hörbuch „Neuromancer“




    FESTIVALS / AUSZEICHNUNGEN

    1982
    Bundesfilmpreis

    TEXTE ZUM FILM

    Die Idee zum Film

    Dieser Film besteht aus Bildern und Geräuschen, die mich schon fasziniert haben, als ich das erste Mal nach Berlin gekommen bin, im Herbst 1962. Ich habe auf dem Bahnhof Savignyplatz gestanden, ich bin durch die langen Tunnel des Bahnhofs Papestraße gelaufen und wollte sofort einen Film drehen. Ich hatte keine Kamera, ich hatte kein Geld für Filmmaterial. 1965 habe ich meine ersten Schwarz-Weiß-Fotos gemacht; 1971 Super-8-Filme. Von 1979 bis 1981 habe ich die Westberliner Stadtbahnlandschaft in Farbe fotografiert, zusammen mit Volker Noth. Beobachtungszeitraum war November 1979 bis zum März 1981. 17 Monate lang haben wir fast jede Woche eine Kamera-Expedition in die unmittelbare Nähe unternommen. Ziel und Absicht war die systematische Beschreibung einer vergessenen Industrielandschaft. Wir waren nicht als Polizeireporter unterwegs, wir waren Abenteurer in einem aufgegebenen, einem verlassenen Land, Detektive auf der Suche nach der vergangenen Zeit, der Stadt von gestern. Wir haben aus diesen Fotos ein Buch gemacht (Das Buch BERLINER STADTBAHNBILDER ist 1981 im Ullstein-Verlag erschienen). Wir haben die S-Bahn fotografiert, um ein Kapitel Technikgeschichte und ein Kapitel Architekturgeschichte festzuhalten - und auch ein Stück Berliner und Deutsche Geschichte. Wo immer es möglich war, sind wir ganz nah rangegangen. Wir haben versucht, Dokumentarfotos zu machen. Bilder, die die S-Bahn, die Stadtbahnlandschaft zeigen, wie sie ist, von allen Seiten, zu allen Jahreszeiten. Die Fotos sind lauter Einzelteile, lauter Ausschnitte, lauter Fragmente. Montiert zu einem Ganzen werden sie erst von den Augen derjenigen, die sie ansehen. Der Film ist die Fortsetzung des Fotografierens. Er ist montiert aus Standbildern und Fahraufnahmen, Fahrten mit der Stadtbahn, Blicken aus dem Abteilfenster, Bildern einer Landschaft, in der die Zeit stehen geblieben ist. Hier ist Deutschland noch so anzuschauen, wie es früher einmal ausgesehen hat. BERLINER STADTBAHNBILDER - das ist zu Beginn der 1980er Jahre die Beschreibung einer aufgegebenen, einer verlassenen Industrielandschaft. Leere Bilder laden den Betrachter ein, dieses Niemandsland zu betreten. Das Kamera-Auge nimmt den Reisenden mit auf die Fahrt, von Wannsee nach Friedrichstraße, von Frohnau nach Lichterade, von Lichterfelde-Süd nach Heiligensee. Die Fahrt hört nie auf; wenn die Bilder zum Stehen kommen, fährt der Ton weiter. “Zug Nordpol nach Frohnau Türen schließen! Zug Nordpol nach Frohnau abfahren!" Dieser Film besteht aus Bildern und Geräuschen. Seine Montage lädt dazu ein, ihren Zusammenhang zu erfahren. Es ist ein Film für das Auge des Entdeckers.
    (Alfred Behrens)


    Fahren und Erfahren - eine Einführung

    Im Katalog der von ihm zusammengetragenen Ausstellung “Die Welt der Bahnhöfe" beschreibt Jean Dethier den Bahnhof als “eines der wenigen öffentlichen Gebäude, die aus der industriellen Revolution hervorgegangen sind und seit 150 Jahren wunderbar jedes Tasten, jede Fluktuation, jede Veränderung unserer westlichen Gesellschaft illustrieren. Bahnhöfe entschleiern die Mythen und Realitäten der Neuzeit. Sie sind ein echter Mikrokosmos des Industriezeitalters. Ein Ort, wo alle sozialen Klassen zu finden sind; durch ihre ganze Geschichte hindurch im Zentrum der Aktualität, ein Spiegel der sozialen Wirklichkeit." Dethier weist darauf hin, dass die modernen Bahnhöfe in aller Welt fast jedes äußere Zeichen ihrer Bestimmung aufgegeben haben, dass sie sich einschließen in die Kopie der Modelle, die das augenblickliche ökonomische System kennzeichnen: Einkaufszentrum, Bankgebäude, Bürohochhaus.Für den S-Bahn-Reisenden wurde noch zu Beginn der 1980er Jahre in Berlin die zerstreut und ganz ohne weitere Absicht begonnene Fahrt zum Transit durch Raum und Zeit. Details hielten den Blick fest: Gusseiserne klassizistische Säulen, schmiedeeiserne Geländer, Bahnhofsschilder aus unverwüstlichem Emaille. Hier haben sich Jahre und Jahrzehnte abgelagert, eingeschrieben ins Material. Die großen Uhren, die verrosteten Richtungsschilder, die Brückenkonstruktionen aus Eisen, die alten Bahnhöfe aus Backstein, blindgewordenes Glas und stumpfgewordener Stahl - diese Ingenieurbauten erzählten die Geschichte der Industriestadt Berlin. Jede Fahrt mit der Berliner S-Bahn vermittelte die sinnlich-konkrete Erfahrung von Geschichte. Hier, im historischen Abseits, in einer einzigartigen Landschaft, in der die Zeit stehengeblieben ist, hier löste der Passagier mit jeder Fahrkarte das Billett zu einer Reise in die Vergangenheit. In den Abteilen der 50 Jahre alten Triebwagen, auf den Bahnhöfen aus dem 19. Jahrhundert war Vergangenes lebendig geblieben, ist nicht totes Inventar, unberührbares Ausstellungsstück eines Technischen Museums. Die Fahrt mit der Stadtbahn, der Blick aus dem Abteilfenster ermöglichten einen selbstverständlich-alltäglichen Umgang mit Geschichte. Wir haben fotografiert, was zu sehen war. Schöne Bilder, hässliche Bilder, Bilder, die in ihrer Hässlichkeit schön sind, Bilder, die Geschichte(n) erzählen. Für uns war die Arbeit an dem Buch und dem Film neben dem Fotografieren von Anfang an auch die Suche nach persönlichen Geschichten, nach Alltagsgeschichten, deren Addition, deren assoziative Bild/Text-Montage Geschichte erzählen sollte: Berliner Geschichte, Deutsche Geschichte. Wir wollten alte Menschen finden und uns aus ihren Erinnerungen erzählen lassen, wir wollten festhalten, was die Leute in ihrem Leben auf der S-Bahn, mit der S-Bahn erlebt und seither nicht mehr vergessen haben. Wir haben viele Gespräche geführt. Diesen Interviews haben wir die folgenden Originaltongeschichten entnommen, die spezifische Charakteristik gesprochener Sprache ist dabei soweit wie möglich erhalten geblieben. Die Geschichten und die Bilder erzählen die Geschichte der Stadt Berlin, die Geschichte der Stadtbahn, der Ringbahn, der Nord-Süd-Bahn und der Vorortbahnen - natürlich erzählen sie auch die persönliche Geschichte der Geschichtenerzähler, die Geschichte der Menschen dieser Stadt.




    Original - Erzählungen über die S-Bahn

    (Zitiert nach Tonbandaufnahmen, die Alfred Behrens und Volker Noth für
    ihr Buch und den Film “Berliner Stadtbahnbilder" gesammelt haben)

    Die schwarzen Züge fahren jetzt nicht mehr, die neuen sind jetzt farbig

    “Wir wohnten gegenüber vom Bahnhof Westend. Unser Hof ging auf die Bahngleise raus und war nach der einen Seite hin offen, d.h. mit einem Drahtzaun versehen, so dass man immer schön die Bahn beobachten konnte. Ich spielte oft auf dem Hof, und ich kann mich noch erinnern, dass es eines Tages hieß, die S-Bahn ist jetzt plötzlich elektrisch und die schwarzen Züge fahren jetzt nicht mehr, die neuen sind jetzt farbig, und wir wollen jetzt mal auf den Hof gehen und gucken, wenn der erste Zug da vorbeirauscht. Und das war eine ganz große Angelegenheit, die ganze Hausgemeinschaft stand auf'm Hof, und dann warteten wir auf die erste S-Bahn, die dann bei uns vorbeifuhr. Damals kostete der Fahrpreis für Erwachsene 20 Pfennig und für Kinder einen Groschen."

    Wenn wir da rausgefahren sind mit der ganzen Familie, dann fuhren wir mit dem Verbinder

    “Ach wissen Sie, meine ersten Fahrten mit der S-Bahn, die haben so um 1900 stattgefunden, da war das noch der “Verbinder", da hieß es noch nicht “S-Bahn". Ich bin 1895 geboren, ich hab erst mit 5 Jahren laufen gelernt, ich dachte damals schon, ich werd' mal Kavallerist. Meine Schwester, die ist früh gestorben, die liegt in Weißensee draußen, wo früher die alte Rennbahn war, da liegt die auf dem Friedhof. Wenn wir da rausgefahren sind mit der ganzen Familie, dann fuhren wir mit dem Verbinder, das hieß Verbinder, das war die Ringbahn, dann fuhren wir bis Prenzlauer Allee. Da musste mein ältester Bruder mich schleppen, weil ich noch nicht richtig laufen konnte, ja, das sind meine frühesten Erinnerungen an die Ringbahn."

    Da fuhren noch die Dampfzüge auf der Strecke nach Oranienburg

    “Als Kinder sind wir dann oft zur Millionenbrücke rübergelaufen, das war ja nicht weit. Als ich so etwa 8-9 Jahre alt war, da fuhren noch die Dampfzüge auf der Strecke nach Oranienburg und nach allen Richtungen. Da gingen wir dann immer auf diese Millionenbrücke und haben von oben die Fahrtrouten der Züge beobachtet. Wenn ein Dampfzug ankam, der eine große Dampfwolke auspuffte, haben wir uns gefreut. Wir rannten dann hin und fühlten uns richtig in Wolken eingehüllt, das machte riesigen Spaß."

    Man nannte sie die Blaubeerzüge

    “Als ich meinen Mann kennenlernte, da haben wir dann sonntags immer in aller Frühe unsere Ausflüge gemacht. Immer mit der S-Bahn raus nach Grünau, nach Bernau oder nach Erkner. Da haben wir dann unsere Wanderungen gemacht. Schön war auch die Strecke nach Oranienburg. Oder nach Brieselang - immer an der Briese lang, das war ein wirklich schöner Weg. Da waren ja auch schöne Wälder. Dann haben wir auch mit der Heidekrautbahn viel unsere Fahrten gemacht. Die fuhr dann über Mönchmühle bis raus nach Wandlitz oder Wandlitzsee, da waren große Blaubeerwälder. Als junge Frau bin ich dann auch mit einer Bekannten in die Wälder gegangen, da habe ich so 6-7 Pfund Blaubeeren am Tag gesammelt. Die Züge waren alle voll, man nannte sie die “Blaubeerzüge". Alles hatte dann Eimer und Körbe voll und kam dann abends mit gefüllten Gefäßen wieder nach Hause. Und schöne blaue Hände hatten wir und einen schönen blauen Mund."

    Wenn sonntags die Ausflügler ...

    “Wenn sonntags die Ausflügler nach Tegel fuhren, standen die Menschen in Dreier- und Viererreihen hintereinander an der Bahnsteigkante. Der Zug kam meistens schon besetzt an. Dann gab's ein Gedrängele und Geschubse beim Einsteigen. Manchmal kamen nicht alle mit, und dann wurden Sonderzüge eingesetzt. Wenn die Ausflügler abends wieder zurückkamen, waren die Züge so voll, dass die Menschen wie die Heringe in der Tonne zusammengepfercht standen und saßen und halb zum Fenster raushingen - weil es so heiß war."

    Die S-Bahn war einfach das Verkehrsmittel

    “Sonntags fuhren wir in den Grunewald mit den Eltern, das war unser Sonntagsausflug, wir waren zwei Kinder. Also konnten meine Eltern praktisch für 60 Pfennig ihren Sonntagsausflug machen, Kaffee wurde dann mitgenommen, in irgendeinem Grunewaldlokal Kaffee gekocht. Und dann so in den 30er Jahren, dann machten wir jeden Sonntag unsere Badefahrten nach'm Strandbad Wannsee. (...) Und als wir abends nach Hause kamen, da waren die Züge am Bahnhof Nikolassee so überfüllt, dass man dann manchmal in einen Zug nicht reinkonnte und warten musste, bis der nächste kam und dann stand man wie eine Ölsardine in der Menge, und man kam sich vor wie im Schwitzkasten, und die ganze Erfrischung vom Baden war dann wieder hin, so voll war'n die Züge."

    Zeigen Sie mal Ihren Ausweis

    “Ich will noch etwas aus der Nazi-Zeit erzählen. Eines Abends, es war schon sehr spät, wir hatten Geburtstag gefeiert, in Tempelhof, bei Verwandten, da fuhr der Onkel eine Strecke mit der S-Bahn mit uns mit. Er war ein bisschen angetrunken. Auf einmal stieg ein SA- Mann ein. Der war wohl auch angetrunken, er sagte laut “Heil Hitler" - was man sonst nicht tat, wenn man in die S-Bahn einstieg. Wir reagierten gar nicht darauf. Da machte der so richtig drei große Sprünge auf uns zu, wir saßen da so uff'ner Bank, so uff'ner längeren Bank vom Gepäckabteil , und brüllte ganz laut: “Wollt Ihr Schweine nicht grüßen?" Da haben wir wieder nicht reagiert. Da fasst der meinen Onkel an und sagt: “Weißt Du nicht, wie der deutsche Gruß heißt?" “Nein", sagt mein Onkel, “das weiß ich nicht." Da holte der SA-Mann aus und wollte ihm eine runterhauen, wir hatten gerade den S-Bahnhof Feuerbachstraße erreicht. Mein Onkel sprang mit einem Satz auf, riss die Tür auf, nahm den schwarzen, die haben so einen schwarzen Schlips gehabt, da hat er den angefasst und hat ihn durch die offene Tür rausgeschmissen. “So, nun kühl Dich mal aus", hat mein Onkel gesagt und hat die Tür wieder zugemacht. Wir haben uns wieder hingesetzt, der S-Bahn-Zug fuhr wieder los. In Steglitz kamen plötzlich zwei Zivilisten rein, Gestapo. Der eine kam direkt - ohne sich vorzustellen - auf meinen Onkel zu und sagte: “Zeigen Sie mal ihren Ausweis!" Daraufhin mein Onkel: “Wer sind Sie denn?" Da nahm der ihn hoch und brüllte: “Gib nicht noch freche Antworten, Du Schwein!" Mein Onkel sagte gar nichts, meine Mutter, die zitterte am ganzen Körper und sagte: “Zeig ihm doch den Ausweis, und mach doch keinen Quatsch." Nun hat mein Onkel das auch gemacht. (...) 1940 war das. Wenn die ihn noch einmal mitgenommen hätten, dann wäre er wohl nicht mehr lebendig wiedergekommen."

    In der S-Bahn ist was los

    Mit der S-Bahn fahren heut'
    In- und ausländische Leut'.
    Alle Züge sind sehr voll,
    ach, das ist ja wirklich toll.
    Du sitzt dem andern auf dem Schoß,
    ja, in der S-Bahn ist was los.
    In der S-Bahn, in der S-Bahn, in der S-Bahn ist was los.

    Auf dem Bahnhof Schöneberg
    Steht'n Frollein mit'm Hundezwerg.
    Ins Dienstabteil kommt sie nich'rein,
    da fängt sie mächtig an zu schrein:
    Sehn Se nich, Sie junger Spund,
    det is enn alliierter Hund.
    Der Schaffner sagt dann bloß,
    der Schaffner sagt dann bloß:
    Ja, bei der S-Bahn
    da ist was los.

    Der Zug, der fährt von hier nach dort,
    der hält an jedem kleinen Ort.
    Die Leute steigen ein und aus-
    Und manchmal fällt auch eener raus.
    Isse jung und kommt zu Fall,
    dann jibt es einen jroßen Knall.
    Der Schaffner ruft dann barsch,
    der Schaffner ruft dann barsch:
    Frollein, jetzt liegen Se auf'm Eis!

    Mein Lied ist aus, nun ist genug
    Von der S-Bahn und dem Zug,
    und wenn se manchmal jetzt nicht fährt,
    im nächsten Jahr ist das verjährt.
    Wir aber denken, welch ein Glück,
    an diese Zeit nicht mehr zurück.
    Man hört jetzt oft im Zug
    Man hört jetzt oft im Zug:
    Der halbe Fahrpreis wär' genug.



    Berühmter Knopf bei der S-Bahn

    “Besonders interessant war für uns jüngere Leute noch die Erlaubnis, mal vorne mitfahren zu dürfen und auch mal den Totmannknopf zu drücken. Das ist ja der berühmte Knopf bei der S-Bahn-Fahrt, wenn der Fahrer loslässt infolge einer Ohnmacht oder anderer Umstände, dann bleibt der Zug automatisch stehen. Zwischen Tegel und Schulzendorf war das durchaus möglich, hier eben mal kurze Zeit Triebwagenführer zu spielen. Das war ein großes Erlebnis für uns. Wir hatten echte Freundschaften mit den ganzen Herren, die dort fuhren, eben weil wir Stammgäste waren."

    Wenn wa jetzt in den Bahnhof einfahren, dann ducken Se sich imma

    “Eines Tages war'n wir auf'm Bahnhof Spandau-West, wir stehen und wollen in Richtung Berlin fahren, also Richtung Grünau. Kommen zwee junge Mädchens an, janz ängstlich mit'm Fahrrad. Damals mussten die Fahrräder vorne abgegeben werden, im Dienstabteil. Wie se det rinschieben, det eene Fahrrad, seh ick, haben se beede 'nen gelben Judenstern, die mussten doch schon von de Straße sinn, det war ja nach halb Elwe. Die eene hatte 'nen Platten jehabt, der Reifen war geplatzt, da haben se schon Angst gehabt, wenn's eener sieht. Denn hatt' ick ja 'nen Führer, ick war immer noch Schaffner, den Otto Huhm oder wie der hieß, egal, der war auch nicht so. Ick sach: “Otto, ick bring dir jetzt Besuch!" Da hatten wir die Bauart 167er damals, also die 1940 jebaut sind, die Züje, die so Stromlinienform haben. Da war in de Mitte, war so kalt im Winter, da war in de Mitte so'n Kessel, so'n Wärmekessel. Na, da hab ick die eene nach dem Wärmekessel geschoben, und die andere stand bei mir so in de Ecke. Ick sach: “Wenn wa jetzt so in den Bahnhof einfahren, denn ducken Se sich imma, denn sind Se nich zu sehen, nich" Das haben se ooch gemacht. (...) Denn sind die Mädchens bis Tiergarten mitgefahren, denn sacht ick: “Nun macht denn, dass ihr rauskommt!" Wie die raus sind, sacht der Otto:
    “Wat waren denn det für kleene Mädchens?" “Du wirst lachen", saje ick, "det waren zwee kleene Judenmädchen." “Mensch, wie kannste die denn rinnlassen?" Ich saje: “Die sind ja schon wieder raus, nich?"

    Man konnte das Geld so schön umrubeln

    “Und dann kamen auch später die Hamsterfahrten nach Ostberlin, dort war ja Brot, Kartoffeln, all solche Sachen waren ja billig, man konnte das Geld so schön umrubeln: Man konnte aus einer West-Mark vier Ost-Mark machen. Manche taten's nicht, aus Überzeugung, aber ich hatte dann inzwischen drei kleine Kinder, mir blieb gar nichts anderes übrig. Einmal habe ich einen Kinderwagen im Osten gekauft, den musste ich auch mit der S-Bahn rüberschmuggeln, weil man sonst gar nicht durch die Grenze damit kam. Ich hab das Baby auf'n Arm genommen, so sind wir rübergefahren: Schönhauser Allee. Kinderwagen gekauft, Baby reingesezt, mit 'm gefüllten Kinderwagen wieder zurück. Da seh'n Se mal, wozu die gute alte S-Bahn alles nützlich war. Es stand ja auch immer groß am Bahnhof Friedrichstraße: “Der kluge West-Berliner kauft in der HO".

    In Siemensstadt kriegten wir Fliegeralarm

    “Sehen Se mal, Siemens haben sie bombardiert vom 22. zum 23. November '43. Da bin ick gerade in Siemensstadt, in Jungfernheide, Gartenfeld, die kurzen Strecken jefahren. In Siemensstadt kriegten wir Fliegeralarm, da haben wir eenen Zug rausgezogen aus dem Bahnhof und sind denn zurückgerannt. Die hatten aber uff'n Bahnsteig noch keenen Bunker. Da sind wir runter, unterhalb der Treppen war der Schaffnerraum. Da war denn die Bahnsteigarbeiterin, die Fahrkartenverkäuferin und der Triebwagenführer, ick war da noch Schaffner. Und denn war da noch so eene kleene Kabuse, da waren da zwee kleene Stufen, und da habe ick druffgesessen. Vor mir uff den Stuhl, da saß die Fahrkartenverkäuferin und neben mir uff die Treppe die Bahnhofsarbeiterin. Immer, wenn bei Siemens so'n Ding runter kam, denn wackelte die ganze Geschichte, und vor Angst ist mir immer die Fahrkartenverkäuferin mang de Beene gekrochen mit 'n Kopp, und die Bahnhofsarbeiterin is' mir um den Hals gefallen, nicht vor Angst, und ick hab alleene die Hosen bald voll gehabt, nich. Aber als Mann musste man denn was sagen, na ja, een bisschen Mut machen."

    Da standen sie denn da, in der wahnsinnigen Kälte

    “Denn gab's noch eine Stelle, wo ein ganz kleines KZ war, det war, wenn Se Bahnhof Schönholz sind, da geht's eenmal geradeaus, nach Wilhemsruh, und unten runter nach Reinickendorf, da ist ein spitzer Winkel gewesen, da waren Baracken, ein Frauenlager. Da ist im Winter vorgekommen, dass die Frauen da vor den janzen Baracken standen, das waren etliche Barackenstränge, mehrere hintereinander. Da standen die Frauen denn davor, alle angetreten, nich, da hatten sie ihre Haare noch, da war'n se noch nich uff'm Kopp rasiert, da standen sie denn da, bloß so eene kleene Decke um, in der wahnsinnigen Kälte. Wenn wir raufgefahren sind, da brauchten wir eine Stunde nach Oranienburg, eine Stunde runter, und wenn wir wieder in Schönholz ankamen, dann standen die Frauen immer noch da."

    Da klapperte es so doll, dass ich unweigerlich wach wurde

    “Von 1966 bis 1972 habe ich die S-Bahn dann wieder regelmäßig benutzt. Ich fuhr mit dem Auto bis Spandau-West und von da aus zum Lehrter Bahnhof, wo ich im Sozialgericht Protokolldienst hatte. Ich war dann entsprechend abgespannt abends, und ich hab das natürlich sehr begrüßt, dass ich ab Westkreuz bis Spandau so ganz unbesorgt schlafen konnte, denn in dem Moment, wenn der Zug dann vor Einlauf in den Bahnhof Spandau-West über die Havel fuhr, über die Brücke, da klapperte es so doll, dass ich unweigerlich wach wurde und keine Angst zu haben brauchte, etwa bis Staaken weiter zu fahren."

    Kleine Springbrunnen zum Trinken

    “An etwas kann ich mich sehr gut erinnern, was ja auch fleißig benutzt wurde auf den Bahnsteigen, das waren diese kleinen Springbrunnen zum Trinken. Man drückte auf den Metallring, und dann sprudelte das Wasser hoch, mit dem Mund fing man es auf. Und in den Warteräumen waren noch Kanonenöfen aufgestellt."


    Zur Geschichte der S-Bahn

    Im Jahre 1838 nahm die Berlin-Potsdamer Eisenbahngesellschaft den Betrieb zwischen den beiden Residenzstädten auf. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entstanden die anderen großen Radialstrecken mit ihren damals noch vor den Toren der Stadt gelegenen Bahnhöfen, deren Namen immer gleich die Zielorte der Züge bezeichneten: der Stettiner Bahnhof, der Frankfurter Bahnhof, der Hamburger Bahnhof, der Anhalter Bahnhof, der Görlitzer Bahnhof, der Lehrter Bahnhof. Die erste Verbindung zwischen diesen isolierten Kopfbahnhöfen stellte im Herbst 1851 eine auf Veranlassung des preußischen Staates - der sich raschere Truppenverschiebungen davon versprach - gebaute Verbindungsbahn her. Diese Bahn, auf der neben der militärischen Nutzung nur Güterverkehr abgewickelt wurde, konnte den mit der zunehmenden Industrialisierung Berlins unablässig steigenden Anforderungen schon in den 1860er Jahren nicht mehr genügen. Hinzu kam, dass das Umsteigen für alle Reisenden, deren Weg über Berlin führte, aufgrund der großen Entfernungen zwischen den verschiedenen Endbahnhöfen der Radialstrecken sehr umständlich und beschwerlich war.
    So wurde 1867 der Bau einer “Neuen Verbindungsbahn" beschlossen, die anfangs von Moabit über Gesundbrunnen, Stralau-Rummelsburg und Rixdorf nach Schöneberg führte, und auf der der Personenverkehr am 1. Januar 1872 aufgenommen wurde. Aus dieser zweiten Verbindungsbahn wurde am 15. November 1877 mit der Inbetriebnahme der westlichen Teilstrecke von Moabit über Charlottenburg (heute: Westend) und Grunewald (heute: Halensee) nach Tempelhof die “Berliner Ringbahn".

    Die Erschließung des eigentlichen Stadtkerns durch eine Eisenbahn leitete die Deutsche Eisenbahn-Baugesellschaft im Jahre 1872 ein. Die 12,145 km lange viergleisige Stadtbahn wurde - teilweise das Spreebett und den zugeschütteten Königsgraben benutzend - quer durch das Häusermeer der Innenstadt erbaut. Der größte Teil lag damals auf 731 gemauerten Viadukten, der Rest im Bereich von Charlottenburg auf einer Dammschüttung; sämtliche Straßen unterquerten die Bahn kreuzungsfrei.

    1927 zählte die S-Bahn 358 Millionen Passagiere im ungeteilten Berlin. Diese Zahl stieg nach Abschluss der Elektrifizierung auf 512 Millionen im Jahre 1937, erreichte 1943 kriegsbedingt die Rekordhöhe von 737 Millionen, sank nach dem Krieg auf etwa 420 Millionen beförderte Passagiere per anno und pendelte sich in den fünfziger Jahren auf dieser Höhe ein. Mit der Zweiteilung der Stadt im Jahre 1961 wurde auch das S-Bahn-Netz in zwei separate Netze geteilt. 1976 hatte die Bahn in West-Berlin nur noch etwa 25 Millionen Fahrgäste.

    In den ersten Wochen des S-Bahn-Boykotts nach dem Mauerbau am 13. August 1961 sind auf dem Bahnhof Zoo Reisende, die für 20 Pfennige eine S-Bahn-Fahrkarte kaufen wollten, beschimpft und verprügelt worden. Bald galt in der westlichen Halbstadt das ungeschriebene Gesetz: Mit der S-Bahn fährt man nicht. Die Stadt - besser: was im Westen von ihr übriggeblieben war - hatte kollektiv beschlossen, sich noch weiter zu amputieren. Das war eine Trotzreaktion, eine politische Ersatzhandlung. Man wollte denen “da drüben" zeigen, dass man auch ohne ihre S-Bahn auskommen konnte (die Eisenbahn - Betriebsrechte hatten die Westalliierten 1945 auch in ihren Sektoren der Reichsbahndirektion Berlin überlassen, die später in den sowjetischen Sektor der Stadt verlegt wurde). Der Boykott verdrängte die einstmals modernste und leistungsfähigste Stadtschnellbahn der Welt - Zugfolge während der Olympischen Spiele 1936: neunzig Sekunden - aus dem Bewusstsein der westlichen Stadtbewohner.

    Wo die Zeit stehen geblieben ist, da wird die Fahrt mit der Bahn auf jedem Streckenabschnitt zur archäologischen Exkursion. Bellevue - die intakte geschlossene Bahnhofshalle ist neben der des Bahnhofs Marx-Engels-Platz die einzige noch vorhandene Originalausführung von 1881. Tiergarten - kaum noch Erinnerungen an die ursprüngliche Architektur, die geschlossene Bahnhofshalle von 1885 ist dem Ausbau der Ost-West-Achse zum Opfer gefallen, an ihre Stelle ist eine einfache, an den Seiten offene Überdachung getreten. Zoologischer Garten die Bahnhofshalle eine Stahlkonstruktion aus den dreißiger Jahren, der Neubau hat die Spuren des 19. Jahrhunderts verwischt. In Berlin (West) waren seit dem 28. September 1980 nur noch 38 der insgesamt 77 Berliner S-Bahnhöfe in Betrieb, die anderen waren von der Reichsbahndirektion in der Wilhelm-Pieck-Straße verrammelt und verriegelt worden. Seit der Stilllegung von vier Strecken, seit der zeitlichen Einschränkung des Zugbetriebes - nach 21 Uhr nur noch Pendelverkehr Charlottenburg - Friedrichstraße - konnte von einem S-Bahn-“Netz" in Berlin (West) im Grunde genommen nicht mehr gesprochen werden - allenfalls von einem erweiterten Zubringerverkehr zum Umsteige- und Grenzübergangsbahnhof Friedrichstraße. Zu Beginn der 1980er Jahre, als die BERLINER STADTBAHNBILDER gedreht wurden, sahen viele Bahnhöfe heruntergekommen und verfallen aus.

    Die Situation im März 1980 schildert ein Artikel der Frankfurter Rundschau: “Die Berliner S-Bahn entstammt der Konkursmasse des Dritten Reiches. Und wie so oft bei altem deutschen Reichsvermögen ist die Rechtslage nicht eben simpel - und dennoch eindeutig. Die sowjetische Militär-Administration beschlagnahmte kurz nach Kriegsende das 530 Kilometer lange Streckennetz und alle innerstädtischen Eisenbahnanlagen. Wenige Monate danach, im August 1945, übertrug die russische Komandatura den Bahn-Betrieb für ganz Berlin der in Ost-Berlin ansässigen Reichsbahndirektion. Die erste S-Bahn in der zerstörten Stadt, betrieben von Eisenbahnern der damaligen sowjetischen Besatzungszone, pendelte zwischen Zehlendorf und Schöneberg im amerikanischen Sektor. Die westlichen Alliierten erklärten sich mit dieser Regelung einverstanden. Aber Amerikaner, Engländer und Franzosen behielten sich die Hoheitsrechte über das Bahngelände für ihren jeweiligen Sektor vor, also für West-Berlin. Der heutigen DDR wurden seinerzeit im ostwestlichen Einvernehmen lediglich die Betriebsrechte für die S-Bahn, sowie die Nutzungsbefugnis für die Fernbahnanlagen übertragen."


    Die Bauwerke der Berliner Stadteisenbahn, aus: Zeitschrift für Bauwesen 1884

    “Mit dem Wachstum einer Großstadt nimmt naturgemäß die Beweglichkeit der städtischen Bevölkerung zu und der Verkehr hebt sich nicht nur zwischen den einzelnen Stadtteilen unter sich, sondern auch zwischen der Stadt in ihrer Gesamtheit und der Umgebung, sowie der Außenwelt überhaupt. (...) Berlin stand im Anfang der siebziger Jahre (1870er) an einem derartigen Wendepunkt seiner Entwicklung. Die so folgereichen politischen Umgestaltungen jener Zeit, welche Berlin zur Hauptstadt des Deutschen Reiches erhoben, hatten hier einen gewaltigen Aufschwung und eine lebhafte Thätigkeit in Handel und Gewerbe hervorgerufen. Die sich dadurch bietende Aussicht auf lohnenden Verdienst lockte eine große Menge von Arbeitern, Handwerkern und Geschäftsleuten aller Art nach Berlin und gab Veranlassung zu einem ungemein raschen Anwachsen der Bevölkerung, sowie zu einer vermehrten Nachfrage nach Wohnungen. (...) Mit der Erweiterung der bisherigen Stadtgrenzen vermehrte sich das Bedürfnis nach bequemen und raschen Verbindungen zwischen den alten und neuen Stadtheilen, und zwar wurde dieses Bedürfnis um so fühlbarer, als Berlin bisher bezüglich seiner Beförderungsmittel auf einer, im Vergleich zu den Hauptstädten anderer Länder verhältnismäßig niedrigen Stufe der Entwicklung stand. Wenn von der kurzen Pferdebahnstrecke in der Dorotheenstraße zwischen Kupfergraben und Thiergarten abgesehen wird, waren zur Vermittlung des Verkehrs innerhalb der Stadt nur mangelhafte Droschken und schwerfällige Omnibusse vorhanden, beide sehr wenig geeignet, um damit Entfernungen bis zu einer Meile und mehr zurückzulegen, zumal wenn es sich um Beförderung größerer Menschenmengen handelte. (...) Hiernach darf es nicht Wunder nehmen, wenn die durch das plötzliche Anwachsen von Berlin gebildeten neuen Verhältnisse bald Verkehrsstörungen und Zustände herbeiführten, welche die weitere Entwicklung ernstlich in Frage zu stellen drohten, falls nicht eine baldige, durchgreifende Verbesserung der Verkehrswege angebahnt wurde. In richtiger Würdigung der Verhältnisse erkannte eine Anzahl praktischer, mit klarem Blick in die Zukunft schauender Männer bereits frühzeitig, dass nur durch Anlage einer mit Lokomotiven betriebenen Eisenbahn den verschiedenartigen Verkehrsbedürfnissen in ausreichender und nachhaltiger Weise Rechnung getragen werden könne. Als vollkommenste Lösung der Aufgabe erschien ein Netz von Bahnen, welche, Berlin in einigen Hauptrichtungen durchschneidend, einestheils im Mittelpunkt der Stadt sich vereinigen, anderntheils mit ihren am Umfange der Stadt gelegenen Enden an die bereits vorhandene Ringbahn, sowie an die in Berlin einmündenden Hauptbahnen angeschlossen werden sollten. (...) Die Verwirklichung des angeregten Planes rückte sichtbar näher, als die Deutsche Eisenbahn-Gesellschaft unter Leitung des im Jahre 1878 verstorbenen Wirkl. Geh. Ober-Regierungsraths a.D. Herrn Hartwich in einer Eingabe vom 2. Mai 1872 an den derzeitigen Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten die Absicht zu erkennen gab, zur Abkürzung des Weges nach dem südwestlichen Deutschland und der Schweiz eine Eisenbahn (Südwestbahn) über Charlottenburg, Potsdam, Erfurt, Meiningen zu bauen, welche, am Ostbahnhofe in Berlin beginnend, die Stadt in der von dem Baurath Orth angegebenen Weise durchziehen sollte. (...) Wie erwähnt, sollte die Bahn von einem Punkt zwischen den Bahnhöfen der beiden östlichen Staatsbahnen, der Ostbahn und der Niederschlesisch-Märkischen Bahn, ausgehen, die Stadt in Anlehnung an die Spree und den Königsgraben von Osten nach Westendurchziehen und bei Charlottenburg an der Südseite dieses Ortes aufhören. Das östliche Ende sollte an die beiden vorgenannten Staatsbahnen, das westliche Ende unter anderem an die auf Kosten des Staats zur Ausführung vorbereitete Bahn Berlin-Wetzlar, beide Enden auch an die Ringbahn, welche gleichfalls dem Staate gehört, angeschlossen werden. (...) Durch Vertrag vom 15. Dezember 1873 vereinigte sich dann die Königliche Staatsregierung mit der Deutschen Eisenbahnbau-Gesellschaft zu einem Actienunternehmen für den Bau und Betrieb der Berliner Stadtbahn, zu welchem auch die drei Privatbahn-Gesellschaften, die Berlin-Potsdam-Magdeburger, die Magdeburg-Halberstädter und die Berlin-Hamburger Bahn, zugezogen wurden, für welche das Zustandekommen der beabsichtigten Anschlüsse ihrer Bahnen an die Stadtbahn gleichfalls von besonderem Wert war. (...)Getragen von einem massiven, in gefälligen Formen aufgeführten Viaduct, suchen die vier Geleise der Bahn in vielfachen Windungen ihren Weg durch das Häusermeer der Stadt, bald in dem letzteren verschwindend und sich dem Blicke entziehend, bald beim Ueberkreuzen der Wasserläufe, Straßen, Plätze usw. auf kürzere oder längere Strecken wieder sichtbar werdend. Die geräumigen und in gediegener Ausstattung angelegten Stationen, sowie die leichten, in mannigfacher Weise gestalteten Eisenconstructionen zu den Unterführungen der verschiedenen Verkehrswege bringen in die einfachen Linien des Viaducts eine wohlthuende Abwechslung und haben Veranlassung zu reizvollen architektonischen Bildern gegeben. (...) Die Stadtbahn als Hochbahn auszubilden, welche durch die günstige Bodengestaltung der Stadt wesentlich erleichtert wurde, muß als ein ganz besonderes Glück bezeichnet werden, denn dadurch hat die Anlage einen nicht hoch genug anzurechnenden Vorheil gewonnen, der umso klarer ins Auge tritt, wenn man sie mit den Londoner Stadtbahnen vergleicht,- welche sich, wie bekannt, fast durchweg unter der Erde befinden. Nach einstimmigem Urtheil aller, welche jemals eine Londoner Untergrundbahn benutzt haben, ruft eine Fahrt auf derselben bei einem Nicht-Engländer jedes Mal das Gefühl des Unbehagens hervor. Zu jeder Tageszeit umgibt den Reisenden nächtliches Dunkel, an den rußigen Tunnelwänden findet das Geräusch der fahrenden Züge, welches durch Gekreische der Schienen in den engen Curven noch verstärkt wird, einen betäubenden Widerhall. Die übelriechende, durch die Verbrennungsgase der Gaslampen, Maschinen usw. verpestete Luft wirkt störend auf die Athmungswerkzeuge ein. (...) Ganz anders in Berlin. Eine Fahrt auf der Berliner Stadtbahn übt auf jeden aufmerksamen Beobachter einen besonderen Reiz aus. Hier blickt der Reisende, unbelästigt durch das betäubende Geräusch der Räder oder durch Rauch und dumpfige Luft, von erhöhtem Sitze bei Tage auf wechselvolle anziehende Bilder großstädtischen Lebens, bei Nacht auf ein Meer von Lichtern, deren zitternder Widerschein einen großartigen Eindruck hervorruft."


    Leseliste (bis 1980)

    Die Bauwerke der Berliner Stadteisenbahn, Sonderdruck der Zeitschrift für Bauwesen, Berlin 1884 Berlin und seine Eisenbahnen, Berlin 1896

    Günter Kunert, Fahrt mit der S-Bahn, Berlin und Weimar 1968

    Bernd und Hilla Becher, Anonyme Skulpturen- Eine Typologie technischer Bauten, Düsseldorf 1970

    Kurt Pierson: Dampfzüge auf Berlins Stadt- und Ringbahn, Augsburg 1971

    Uwe Johnson, Berliner Sachen, Frankfurt/Main 1975

    Hans Baluschek: Ausstellungskatalog, Kunstamt Kreuzberg 1975

    Elisabeth Niggemeyer/Wolf-Jobst Siedler, Berlin - Die gemordete Stadt, München 1978

    Manfred Hamm, Berlin - Denkmäler einer Industrielandschaft, Berlin 1978

    Hermann Glaser, Spurensicherung - Über die Notwendigkeit der Erforschung und Erhaltung von Industriekultur, Frankfurter Rundschau, 15.12.1979

    Joachim Trenker, Ende einer langen Dienstfahrt? - Das ungewisse Schicksal der Berliner S-Bahn, Frankfurter Rundschau, 29.3.1980

    Raffael Rheinsberg, Anhalter Bahnhof - Ruine oder Tempel? Berlin 1980

    Peter Bley, Berliner S-Bahn, Vom Dampfzug zur elektrischen Stadtschnellbahn, Düsseldorf 1980

    Die Welt der Bahnhöfe, Ausstellungskatalog, Centre Georges Pompidou Paris/Staatliche Kunsthalle Berlin, Berlin 1980

    Sabine Bohle-Heintzenberg, Architektur der Berliner Hoch- und Untergrundbahnen, Berlin 1980