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  • VIDEO VERTOV - Ein Leben zwischen Liebe und Revolution

    Deutschland 2012, 88 Min., digital, FSK: 6

    Mit Lena und Alfa Conradt, Frederic Rzewski, David von Bernini. Jasper Halfmann, Konrad Bayer, Jost Vobek, Katrin Seybold. StudentInnen der dffb, Kinder aus dem Kinderladen der K2. StudentInnen der Freien Universität, Ingrid Briel, Carl-Ludwig Rettinger. Gretchen und Rudi Dutschke. Die Kommunarden Antje Krüger, Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann, Georg von Rauch. Ein Memoryspiel auf Zypern. Alexander Lowen, Bhagwan/Osho, Menschen in Indien. Felix Gmelin, Christoph Schlingensief. FahnenläuferInnen aus Berlin, Stockholm, Venedig, Hongkong. Ein Junger Mann aus Dresden und Polizisten aus Berlin. StudentInnen der Beijing Film Akademy. Ein Denkmal in Sacha-Jakutien. Ein Fahrradfahrer auf dem Rollfeld vom ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof. Das „Labor für antiquierte Videosysteme“ im ZKM Karlsruhe.

    Regie: Gerd Conradt
    Buch: Daniela Schulz, Gerd Conradt
    Kamera: Hans Rombach (BVK), Gerd Conradt
    Schnitt: Astrid Vogelpohl
    Online & Sound Editor: Sebastian Schmidt
    Musik: Agitation free, Gustl Lütjens, Frederic Rzewski, Ariel Shibolet

    Produktion: kinoglas-films, Daniela Schulz
    Mit Unterstützung von: Medienboard Berlin-Brandenburg, BKM, MFG-Baden Württemberg

    BIOGRAFIE

    Regie: Gerd Conradt (*1941). 1966-68 Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Seit 1982 freiberuflich tätig als Regisseur, Autor, Kameramann und Produzent (Mandala.Vision.Berlin, Kinoglas-films, mit Daniela Schulz). Seine Filme und Videoprogramme sind meist Porträts - konzeptionell gestaltete Zeitbilder, oft als Langzeitdokumentationen.
    Themenschwerpunkte seiner Arbeiten sind: Berliner Stadtgeschichte, Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands, Studentenbewegung (RAF) – „Poesie-Videos“ und „Videobriefe“ als Unterrichtsfilme, Videoinstallationen. Mitarbeit an Zeitschriften, Lehrtätigkeit an Hochschulen (Salzburg, Hildesheim, Magdeburg, Berlin, Peking).

    Mitglied der Deutschen Filmakademie

    Filme: „Über Holger Meins“, 1982. „Der Videopionier“, 1984. „Fernsehgrüße von West nach Ost“, 1986. „Ein-Blick“, 1987. „BlaubeerWald“, 1990. „Hold Me, Love Me – Irene Moessinger und das Tempodrom“, 1995. „Dygyldai“, 1997. „Menschen und Steine“, 1998. „blick.berlin.dok“, 2000. „Starbuck – Holger Meins“, 2002. „Rettet Berlin!“, 2003. „Monte-Klamotte“, 2005. „Die Spree – Sinfonie eines Flusses“, 2007. „Farbtest.6“, 2008. „Atem – Spiegel der Seele“, 2009. „Arirang – Letter to Barack“, 2010. „Mauerweg Stafette“, 2011. „Video Vertov“, 2012.

    Bücher: „Starbuck – Holger Meins, ein Porträt als Zeitbild“, Espresso Verlag, 2001.
    „Starbuck – Il Corpo come Arma, Vita e morti di Holger Meins“, Zambon, 2013.
    „An der Spree – der Fluss, die Menschen“, Transit Verlag, 2005.









    INTERVIEW

    Interview mit Gerd Conradt

    Wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Film, der fast nur aus vorhandenem Dokumentarmaterial besteht und von so einem langen Zeitraum erzählt?

    Beim Auszug aus meiner Wohnung, in der ich dreiunddreißig Jahre gelebt hatte, war ich gezwungen, jeden Gegenstand zu bewerten: Zieht er mit, kommt er in ein Archiv, wird er verschenkt oder entsorgt?
    Als Filmemacher hatte ich viele Film- und Videodokumente gesammelt, an die ich mich nicht mehr erinnerte oder für die ich bisher keine Verwendung gefunden hatte. Als mir die Idee kam, aus diesen sehr unterschiedlichen Materialien eine Geschichte für meinen Enkel zu erfinden, fühlte ich mich erleichtert; jetzt hatte ich eine Perspektive für meine Aufräumarbeit. Mein Enkel ist sechs Jahre; wenn er älter ist, wird er sich dafür interessieren, wer sein Großvater war. Ich sehe den Film als ein künstlerisch gestaltetes Testament an.

    Du sagst, der Film hat für Dich Modellcharakter. Was meinst Du damit?

    Jeder steht irgendwann vor der Frage: Was mache ich mit meinem Nachlass? Spätestens dann, wenn über ein Testament nachgedacht wird. Mich interessiert dabei speziell: Was machen die Menschen mit ihren audiovisuellen Dokumenten, den Fotoalben, DIA-Sammlungen, Super-8-Filmen und Videofilmen?

    In Zusammenarbeit mit der Organisation „Dialog der Generationen“ will ich eine Bewegung initiieren, deren Ziel es ist, ältere Menschen anzuregen, über eine gestaltete Aufräumarbeit im eigenen Lebensarchiv nachzudenken. Ich gehe davon aus, dass die gegenwärtigen Großeltern ihren Enkeln viel zu erzählen haben und auch über reichhaltige (Familien-)Dokumente verfügen, die nur sie richtig einordnen und erklären können. Auf diese Weise entsteht eine Geschichtsschreibung von bisher unbekannter Subjektivität, sie fügt dem „kulturellen Gedächtnis“ der Gesellschaft einen neuen Aspekt hinzu.

    Du sprichst ein wichtiges Thema an. Die Alterspyramide, wie wir sie aus dem letzten Jahrhundert kennen, gibt es so nicht mehr – sie steht auf dem Kopf. Bald leben in Deutschland mehr alte Menschen als junge.

    In den „Dialog der Generationen“ sind derzeit etwa zwei Millionen Menschen eingebunden, die sich in ca. zehntausend Vereinigungen organisiert haben. Das Projektbüro im Pfefferberg Berlin macht seine Mitglieder auf den Film aufmerksam und lädt zu den jeweiligen Vorführungen in die Kinos ein.

    Solch eine Sichtung der Lebensdokumente, wie ich sie vorschlage, geht mit einer intensiven Erinnerungsarbeit einher. Das fällt vielen schwer – auch mir. Wenn ich die Dokumente über mein Leben jetzt öffentlich mache, verfolge ich ein Ziel: Ich will über den Wert des Lebens sprechen. Was zählt im Leben? Nur der Besitz, das Eigentum? Als ich 1968 auf die Straße ging, stand „die Eigentumsfrage“ im Zentrum aller Diskussionen – wir suchten nach Utopien für eine andere Gesellschaft als die, aus der wir kamen – dem Faschismus. Nie wieder Krieg! Einige Freunde von mir glaubten an den „Sieg im Volkskrieg“ und gründeten die RAF. Mich quälte die Frage: Wie kann ich radikal sein ohne Gewalt? Die Suche nach Antwort führte mich zu den grundsätzlichen Fragen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?

    Hat Dich diese Suche in den berüchtigten Ashram von Poona geführt?

    Poona war für mich Asien, die indische Kultur und die Suche nach Meisterschaft, so wie sie Richard Wagner auch in den „Meistersängern“ darstellt. Das „Radikale“, nach dem ich gesucht hatte, fand ich in der Meditation - speziell in den von dem indischen Philosophen Bhagwan Shree Rajneesh (Osho) entwickelten Meditationstechniken, z.B. der „Dynamischen Meditation“, von der es im Film Ausschnitte zu sehen gibt. Als Filmemacher bewegte mich auch die Frage: Worin liegt der Unterschied zwischen Bildern und Worten? Darauf gibt es im Film eine Antwort. Damit komme ich auch wieder auf das Thema „Dialog der Generationen“ zurück. Mehr und mehr sammeln die Menschen Bilder – aber eigentlich wissen wir nicht, was das Wesen eines Bildes ist. In den Schulen lernen wir zu reden, schreiben, rechnen – aber kaum zu sehen.

    Wurden vor langer Zeit bedeutende Menschen als Mumien fixiert, verschafft sich heute jeder Verewigung durch die Digitalisierung seines Lebens. Wurde die Speichertechnik als Strategie gegen den Tod, gegen das Verschwinden und Vergessen geschaffen, führt die Anhäufung digitaler Abbilder heute schon zu einem frühzeitigen Sterben. Denn kein Mensch, keine Gesellschaft ist heute mehr in der Lage, all die milliardenfach gespeicherten Bilder und Töne jemals zum Leben zu erwecken – es sei denn, wir fangen an, einen sinnvollen Umgang damit zu üben…

    Am Ende des Films, sehen wir Dich auf einem Panzer. Wo ist das? Was willst Du uns damit sagen?

    Der Panzer ist Teil einer Gedenkstätte für den „Großen Vaterländischen Krieg, 1941 – 1945“. Das Denkmal steht in Jakutsk, der Hauptstadt der Republik Sacha-Jakutien – in Sibirien, am Fluss Lena.
    2011 fand dort das 7. internationale Festival des Maultrommelspiels statt – gewissermaßen die Olympiade der Maultrommler. Ich spiele Maultrommel seit meiner Kindheit. Es ist ein altes schamanisches Instrument. Am Ende des Festivals bin ich zu dem Denkmal gefahren, um mich von der Stadt und dem Land zu verabschieden. Als ich sah, wie die Kinder von dem Denkmal Besitz ergriffen hatten – einen alten T-4O Panzer zum Spielzeug gemacht hatten, berührte mich das sehr. Mein Geburtsjahr 1941 ist für mich mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden - der Russlandfeldzug begann. Das Spiel der Kinder auf dem Panzer empfand ich als Heilung. Ich zog mein Kostüm an, in dem ich mit meiner Gruppe „preussischblau“ in der Oper und im russischen TV aufgetreten war und spielte mit den Kindern auf dem Panzer, mit dem vielleicht die Rote Armee Berlin erobert hatte.

    Was bedeutet der Titel VIDEO VERTOV?

    Video heißt: Ich sehe, ich werde gesehen! Vertov bezieht sich auf den russischen Filmpionier Dziga Vertov, der mit seinem Film „Der Mann mit der Kamera“ einen der aufregendsten Filme der Filmgeschichte geschaffen hat. Im Film gibt es Szenen, in denen Vertov zeigt, wie sein Film entsteht – das gefällt mir. Ich will die Zuschauer auch am Entstehungsprozess von Video Vertov teilhaben lassen.

    Im Film arbeitest Du mit verschiedenen Materialien. Das ist interessant zu sehen. Jede Technik hat ihre eigene „Aura“. Wo wurden diese Dokumente aufgearbeitet?

    Meine ersten Filme habe ich mit 16-mm-Film gedreht. Das war Handwerk: Man zerschnitt und sortierte das Material und klebte es wieder zusammen. Der Ton wurde getrennt aufgenommen und zum Film am Schneidetisch angelegt. Da das Filmmaterial teuer war, wurden die Dreharbeiten gut vorbereitet. Als ich 1969 das erste magnetische Bild- und Tonaufzeichnungsgerät in der Hand hatte, den berühmten Sony Portapak, da wusste ich, Video, das bewegte Sofortbild, wird mein neues Medium. Das Erscheinen des PORTAPAKS auf dem Weltmarkt der Telekommunikation löste eine wahre Euphorie aus. Mit dem neuen Werkzeug - dem „Magnetoscope des Amateurs“ - war es möglich geworden, kostengünstig und ohne technische und gestalterische Vorkenntnisse Ereignisse zu dokumentieren und Filme zu drehen, sie an Ort-und-Stelle anzusehen - sie zu senden. In diesem Subsystem der Television spiegelten sich Anarchistisches, Bizarres, Privates, Flüchtiges und auch Fehler. Im Laufe der Jahre kamen immer neu Systeme auf den Markt und ich arbeitete mit allen. Als sich vor fünfzehn Jahren abzeichnete, dass die Bildspuren der Technikutopie Video verglühen würden, baute in kluger Voraussicht das „Zentrum für Kunst und Medientechnologie“ (ZKM) in Karlsruhe ein „Labor für antiquierte Videosysteme“ auf - einen einzigartigen Video-Emergency-Room. Dort wurden meine Videobänder von 1/2 Zoll über U-Matic, Betacam, VHS, Video8, DV auf HD aufgearbeitet. Mit großer Sorgfalt und Können wurden die Filmmaterialien von der Deutschen Kinemathek restauriert und ebenso wie die Videomaterialien auf Festplatten aufgespielt. Bei beiden Institutionen bedanke ich mich für die großzügige Unterstützung.

    Immer wieder ist in Deinem Film eine rote Fahne zu sehen. Glaubst Du noch an die Revolution?

    Eine Fahne ist ein Stück Stoff im Wind. Rot ist die Farbe der Könige und des Kommunismus, die Farbe der Gefahr und der Freude. Rot ist die Farbe aller Leidenschaften - von der Liebe bis zum Hass.

    Für mich ist die Musik im Film sehr wichtig. „Agitation free“ ist eine Band, die 1969 in Westberlin entstanden ist, deren Musik damals Popgeschichte geschrieben hat, die zeitlose Aktualität besitzt. Diese Musik erzählt über 1968 etwas anderes als die Dokumente von den Demonstrationen anlässlich des Vietnamkongresses oder denen am Springerhaus nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. Mich interessieren Vielfalt und Nuancen. Mein Freund, der Komponist und Pianist Frederic Rzewski, ist im Film zu sehen. Seine Klaviervariationen über „The people united will never be defeated” – das ist für mich Revolution.

    Im Gespräch mit Dr. Daniela Schulz

    TEXTE ZUM FILM

    "Diese Idee birgt potentiell einen wunderbaren Film in sich.

    Darin ist angelegt, dass sich in ihm Biografie, Zeitgeschichte und Mediengeschichte verbinden. Eines steckt im anderen. Das Intime könnte ein erhellendes Licht auf das Öffentliche werfen, wie auch umgekehrt die gesellschaftlichen, historischen Verläufe die persönlichen Erfahrungen und die Persönlichkeit dessen, der erzählt, in ihrer Besonderheit und Einmaligkeit kräftig hervortreten lassen könnten.

    Das persönliche, biografische Prinzip ist auch besonders wichtig in Bezug auf den so verehrten Namenspatron Vertov. - Es sollte das Prinzip dieses Films sein, nur davon zu erzählen, was wir tatsächlich im Bild sehen können. - Nicht weniger wichtig wird die Montage dieser großen Lebens-Collage sein. Auch sie sollte auf Einfachheit, Übersichtlichkeit und Anschaulichkeit gerichtet sein –
    dabei sollte sie aber zugleich viele Assoziationsfreiräume offen halten – wie wir es ohnehin aus den Filmen von Gerd Conradt gewöhnt sind und folglich auch erwarten können.

    Diesen Film möchte ich sehr gern im Kino sehen."

    Dr. Erika Richter

    ***

    "Die sehr persönliche Verarbeitung von historischen Prozessen, kulturellen und politischen Ereignissen gehört zu den Markenzeichen des Film- und Videoregisseurs Gerd Conradt. Seine Langzeitbeobachtung „Der Videopionier“ von 1983 ist regelrecht Kult geworden und gilt als einer der wichtigsten Dokumentarfilme, der in den letzten Jahrzehnten mit elektronischen Mitteln entstand. Schon in dieser Arbeit war der Bezug zu Dziga Vertov und seiner Idee einer Allgegenwart der Kamera, die jede Regung des Alltags der Menschen aufzeichnet, für Gerd Conradt essentiell. Über 10 Jahre lang beobachtet er die Betroffenen einer Stadtteilsanierung und zeichnet ihre Geschichten videographisch auf.

    VIDEO VERTOV – kommt mit einem vergleichbaren Gestus der persönlichen Ansprache daher. Wie in einem Märchen erzählt der Großvater seinem Enkel Geschichten aus seinem Leben. Wesentliche Grundlage der Erzählung sind von ihm selber gedrehte Dokumente, die private und öffentliche Ereignisse zeigen, zugleich: anonym und individuelle Geschichte. VIDEO VERTOV will einen Dialog zwischen den Generationen eröffnen und damit zugleich eine neue Form der künstlerischen Auseinandersetzung mit Geschichte ausprobieren. Man könnte die Arbeit, die Conradt herstellen möchte, als eine elektronische Familienchronik betrachten. -

    In VIDEO VERTOV greift der Großvater die alte Tradition des Geschichtenerzählens in neuer Form auf. Er schafft damit eine Brücke, über die Wissen von einer zur anderen Generation überliefert werden kann. Zu diesem Wissen gehört heute auch das Bewusstsein von der medialen Verfasstheit unserer Erfahrungen, was in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird. In der Verschränkung von Vertrauen ins Leben, wie es durch die Figur des Großvaters vermittelt wird, und einer kritischen Betrachtung der Bilder, die unser Verständnis von Geschichte prägen, scheint mir die ethische und die ästhetische Kraft in diesem Projekt zu entstehen. -

    Ich bin sicher, dass Gerd Conradt mit VIDEO VERTOV einen außergewöhnlichen audiovisuellen Beitrag zur deutschen Geschichte der letzten Jahrzehnte vorlegen wird, den wir bestimmt auch in unseren Seminaren vorführen und diskutieren werden."

    Prof. Dr. Siegfried Zielinski